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Alzheimer: Wenn Erwachsene wieder zu Kindern werden

Foto: Imago / Westend61

Alzheimer: Wenn Erwachsene wieder zu Kindern werden

Sie stellen unsinnige Dinge an wie kleine Kinder. Aber es sind keine lustigen Streiche. Alzheimerkranke wissen oft nicht mehr, was sie tun - und leiden sehr darunter. Der Psychiater Alois Alzheimer brachte Hirnveränderungen und Gedächtnisschwund in Zusammenhang.

Ein alter Mann irrt nachts durchs Haus. Er trägt fünf Hemden übereinander, hat die Taschen vollgestopft mit Geschirr, Handtüchern, Zahnbürste – und will zur Schule. Eine Frau schreit unvermittelt ihre erwachsene Tochter an, fragt wer sie sei und behauptet, sie stehle ihre Sachen – um dann kurz darauf wie ein kleines Kind zu weinen. Diagnose in beiden Fällen: Alzheimer. Rund 1,5 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an Demenz. Bis zum Jahr 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft wegen der steigenden Lebenserwartung mit drei Millionen Betroffenen.

Was passiert im Gehirn?

Der Oberbegriff Demenz bezeichnet alle Krankheitsbilder, bei denen der Betroffene nahezu vollständig seine geistigen Funktionen wie Denken, Erinnern, die Orientierung und das Verknüpfen von Denkinhalten verliert. Die häufigste Form der Demenzerkrankungen ist die Alzheimer-Demenz. Unter ihr leiden zwei Drittel der Betroffenen. Hierbei stirbt langsam Nervenzelle für Nervenzelle im Gehirn ab – und das schon Jahre bevor die ersten Symptome auftreten.

Der Grund für die absterbenden Nervenzellen ist ein fehlerhafter Stoffwechselvorgang im Körper. Dabei werden entweder übermäßig viele Ablagerungen eines Eiweißproteins produziert oder der Körper baut die regulär entstehenden Eiweißablagerungen nicht richtig ab. Wie ein Gift greifen diese dann Nervenzellen, Synapsen und energieliefernden Mitochondrien an, die daraufhin absterben.

Was löst den fehlerhaften Stoffwechselvorgang aus?

Um die Antwort auf diese Frage ringen die Mediziner teilweise bis heute. Am besten bekannt sind die Ursachen für die sehr seltenen, frühen Fälle, die häufig innerhalb einer Familie auftreten. Hier lösen Fehler im Erbgut, sogenannte Mutationen, die übermäßige Produktion der Eiweißproteine aus. Für gewöhnlich treten die Symptome bei der erblichen Alzheimer-Erkrankung vor dem 60. Lebensjahr auf.

Bei der nicht-erblichen Alzheimer-Demenz spielen mehrere Faktoren zusammen. Der wichtigste unter ihnen: das Alter. Wohingegen von den 60-Jährigen nur etwa jeder Hundertste betroffen ist, leidet unter den 80-Jährigen jeder Zehnte unter Alzheimer, bei den 90-Jährigen sogar jeder Dritte. Auch spielen genetische Faktoren eine Rolle, die die Krankheit jedoch nicht hervorrufen, sondern lediglich begünstigen. Laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. sind zudem diejenigen anfälliger für Demenz, die sich ihr ganzes Leben lang wenig geistig, sozial oder körperlich angestrengt haben.

Der Psychiater Alois Alzheimer hat vor gut 100 Jahren an seiner dementen Patientin Auguste Deter erstmals Hirnveränderungen entdeckt. Zu dem Zeitpunkt dachte er noch, er habe es mit einer sehr seltenen Krankheit zu tun. 1996 fanden die Ärzte Volk, Gerbaldo und Maurer im Archiv der psychiatrischen Klinik in Frankfurt das Krankenblatt von Auguste D.

Der Fall „Auguste”

Frankfurt im Jahr 1901: Alois Alzheimer arbeitet als Assistenzarzt in der Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische. Am 25. November bringt ein Mann seine verwirrte und orientierungslose Frau in die Anstalt. Sie heißt Auguste Deter und ist 51 Jahre alt. Der nachfolgende Dialog, den Alzheimer mit seiner Patientin Auguste, schrieb Medizingeschichte: „Wie heißen Sie?“ – „Auguste.“ – „Familienname?“ – „Auguste.“ – „Wie heißt ihr Mann?“ – „Ich glaube … Auguste.“ Körperlich scheint die Frau kerngesund, auch ein psychisches Trauma können die Ärzte ausschließen. Sie stehen vor einem Rätsel. Auf 31 Seiten hielt der Alzheimer seine Beobachtungen fest.

Hirnforschung lag im Trend

1904 verlässt Alois Alzheimer Frankfurt, um in München an der Psychiatrischen Klinik das Hirnanatomische Laboratorium zu leiten. Er erkundigt sich regelmäßig nach dem Gesundheitszustand von Auguste Deter. Als diese zwei Jahre später am 8. April 1906 verstirbt, lässt er sich Krankenakte und Gehirn seiner ehemaligen Patientin schicken. Unter dem Mikroskop entdeckt er  den massiven Zellschwund und ungewöhnliche Ablagerungen. Ein halbes Jahr später berichtet er bei der 37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte über das eigenartige Krankheitsbild und einen „eigenartigen schweren Erkrankungsprozess der Hirnrinde“.

Da Hirnforschung damals im Trend lag, nahmen Kollegen seine Entdeckung nicht wirklich ernst, werten sie lediglich als Kuriosität. Viele Ärzte untersuchten um die Jahrhundertwende Gehirne unter dem Mikroskop, machten mit Farbstoff Strukturen sichtbar und beschrieben auffällige Veränderungen. Alzheimer war jedoch der erste, der einen Zusammenhang zwischen Ablagerungen und Gedächtnisschwund bei einer jüngeren Patientin herstellte.

Nicht wegsehen, sondern handeln

Die Verantwortung für Alzheimer-Patienten hört nicht bei den Angehörigen oder den behandelnden Ärzten auf. Auch die Gesellschaft muss für die Krankheit sensibilisiert sein und dadurch Auffälligkeiten registrieren. Ob es sich dabei um die ältere Dame handelt, die ohne Jacke im Winter durch die Innenstadt irrt, den Bankkunden, der hohe Summen abhebt oder die Seniorin, die dreimal am Tag Brötchen beim Bäcker holt.

Wichtig ist, zu handeln und nicht wegzusehen. Das machen die Betroffenen nämlich meist selbst, denn das Vergessen bringt Angst und Scham. Auch Alzheimer erkannte in seiner Patientin Auguste Angst, Misstrauen, Ablehnung und Verzweiflung. In den Gesprächen mit ihm sagte sie: „Ich habe mich sozusagen verloren.“ Alzheimer sprach von der „Krankheit des Vergessens“ – erst nach seinem Tod wurde sie nach ihm benannt. Er starb im Jahr 1915 mit nur 51 Jahren – jünger als seine Patientin.

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