Welt der Wunder

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Die geheimen Archive des Vatikans

Es sind Akten, die Normalsterbliche nie zu Gesicht bekommen: In dunklen Katakomben verwahrt die katholische Kirche seit mehr als 1.200 Jahren Dokumente, die Geschichte geschrieben und sie verändert haben – und von denen einige nie entdeckt werden sollten. Ein Blick in die Schatzkammer des Papstes.

Eine rund vier Meter hohe Bronzeskulptur in Form eines Pinienzapfens klicken die Digitalkameras unentwegt. Touristen blättern in ihren Reiseführern, zeigen nach Süden: „Da muss die Sixtinische Kapelle sein.“ Korrekt – dort, 900 Meter vom Pinienhof entfernt, liegt das berühmteste Gebäude des Vatikans. Doch nur wenige Meter unter den Füßen der Besucher liegt der mysteriöseste Raum im Kirchenstaat – und in ihn kommt keiner der jährlich rund fünf Millionen Vatikantouristen hinein: das Geheimarchiv des Papstes. 
Seit dem 4. Jahrhundert hebt die katholische Kirche ihre Aufzeichnungen auf. Im Jahr 1612 richtet Papst Paul V. das Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum, das korrekt mit „Privatarchiv“ übersetzt werden müsste, als zentrale Sammelstelle ein. Seitdem ist es von Jahr zu Jahr gewachsen. Die wichtigsten Dokumente liegen unter dem Cortile della Pigna, dem Pinienhof mit der namengebenden Skulptur.

Der Bunker der Geheimnisse 

Wir stehen vor einer feuerfesten Metalltür. Der Schlüssel klickt im Schloss. Es öffnet sich die Schatzkammer der Geschichte: ein Labyrinth aus Schränken und Regalen. „Bunker“ nennen die Mitarbeiter des Vatikans den zweistöckigen Raum. Die Wände sind aus Stahlbeton und angeblich atombombensicher. Ein spezielles Lüftungssystem regelt das Klima, damit die hochempfindlichen Dokumente nicht verschimmeln oder auseinanderfallen.

Doch dieser Platz allein reicht nicht aus. In den Sälen des Apostolischen Palastes, dort, wo auch die Gemächer des Papstes sind, befinden sich weitere der insgesamt mehr als 600 Einzelarchive. Würde man alle Regale des Geheimarchivs hintereinanderstellen, ergäbe das die Strecke von Frankfurt am Main nach Mannheim: 85 Kilometer hochbrisante Akten.

Lug und Betrug

15 Millionen Seiten umfasst diese weltweit einmalige Sammlung. Sie ist ein Schatz für jeden Historiker – und ein Versteck für Akten, die ein schlechtes Licht auf die katholische Kirche werfen. Auf Peinlichkeiten aus der Vergangenheit wie die Konstantinische Schenkung, die berühmteste Lüge der Weltgeschichte. In dieser gefälschten Urkunde aus der Zeit um das Jahr 800 wird rückwirkend Papst Silvester I. und all seinen Nachfolgern die westliche Hälfte des Römischen Reiches zugesprochen. 

Auf diesen Betrug gründeten sich jahrhundertelang die Machtansprüche der Päpste. Der älteste „Aktenordner“ in den Archiven des Vatikans ist der Liber Diurnus Romanorum Pontificum, eine Sammlung von etwa 100 kirchlichen Formularen und Briefen aus der Zeit vom Ende des 5. Jahrhunderts bis in das 11. Jahrhundert.

Streng geheim über Jahrhunderte

Jahrhundertelang durfte nur eine Handvoll Menschen das Geheimarchiv betreten. Viele wussten überhaupt nicht, dass es diesen Ort gibt. 1881 öffnet Leo XIII. erstmalig das Privatarchiv der Päpste – eine Sensation für die Wissenschaft. Doch was steht wirklich in den Dokumenten? Welche Geheimnisse verbergen sich hier? Versuchte die Kirche, irgendetwas zu vertuschen? Jetzt sollte es Antworten geben. 

Bis heute ist es aber nur ausgewählten Historikern vorbehalten, die Regale zu durchstöbern. Wer hier auf Spurensuche durch die Geschichte gehen will, muss in einer aufwendigen Prozedur nachweisen, dass er ein berechtigtes Interesse hat. Ein Doktortitel oder die Anmeldung zur Dissertation sind hilfreich. Mindestens sollte man aber ein Empfehlungsschreiben seiner Fakultät vorlegen können.

Wenn Wahrheiten ans Licht kommen

Gibt es nach so vielen Jahrhunderten eigentlich überhaupt noch Geheimnisse zu entdecken? Die Antwort ist Ja. In früheren Zeiten sind Dokumente oft falsch eingeordnet worden, manches wird übersehen – absichtlich oder zufällig? Ein Beispiel: die Akte des Templerprozesses. Sie ist eines der beeindruckendsten Stücke im gesamten Archiv. Die Protokolle sind ein aus 80 Pergamenten zusammengenähtes 56 Meter langes Dokument. Am Ende des Verfahrens gegen die Tempelritter stand die Auflösung ihres Ordens, der letzte Großmeister, Jacques de Molay, brannte auf dem Scheiterhaufen.
 
Die Prozessakte blieb 700 Jahre unentdeckt – was der Kirche nur recht sein konnte. Denn in der Pergamenturkunde von Chinon aus dem Jahr 1308 sprach Papst Clemens V. den letzten Großmeister der Templer von allen Anschuldigungen frei. Das Dokument beweist, dass die Macht des Papstes begrenzt war und er nicht das letzte Wort hatte: Auf Druck des französischen Königs Philipp IV. wurde der Templerproz
ess trotz der Absolution durch Clemens V. neu aufgerollt. Die für die Kirche peinliche Akte fand die italienische Paläografin Dr. Barbara Frale erst vor wenigen Jahren.

Marie Antoinette in der Todeszelle

Welche Worte richtete Marie Antoinette 1793 aus ihrer Todeszelle an Papst Pius VI.? Wie lautet das Urteil gegen Galileo Galilei? Was steht in der Bannbulle gegen Martin Luther? Das Archiv des Vatikans kennt die Antworten. Besonders interessant für die Detektive der Geschichte: die Verbrechen der Kirche. Mit der „Ad Extirpanda“ (auf Deutsch: „zur Ausrottung“) aus dem Jahr 1252 gestattete Papst Innozenz IV. offiziell die Folter, um Geständnisse von vermeintlichen Ketzern und Hexen zu erzwingen. 

„Außerdem soll der Podestà (Stadtherr) oder städtische Amtsträger alle Häretiker, die er gefangen hat, ohne dass er ihnen jedoch bleibende körperliche Schäden zufügt oder sie zu Tode bringt, dazu zwingen, ihre Irrtümer ausdrücklich zu gestehen und andere Ketzer anzuklagen, die sie kennen“, heißt es in dem Dokument. Mehr als 100 Menschen mussten aufgrund dieser Folterduldung sterben. Alles ist nachzulesen in den fast 1.000 Jahre alten Aufzeichnungen – wenn man Latein oder Italienisch beherrscht und die Geduld aufbringt, Handschriften aus dem Mittelalter zu entschlüsseln. Außerdem ist die Schrift einiger Papiere nur unter UV-Licht zu erkennen.

Staat gegen Kirche

Schon von weitem fällt im Archiv ein Dokument besonders auf. Wegen seiner 100 roten Wachssiegel. Es ist ein Brief von englischen Abgeordneten an Clemens VII. aus dem Jahr 1531. Die Politiker baten den Papst, die Ehe zwischen dem englischen König Heinrich VIII. und Katharina von Aragón zu annullieren. Doch das Kirchenoberhaupt lehnte das Gesuch ab. Eine folgenreiche Entscheidung: Heinrich sagte sich vom Katholizismus los und gründete die anglikanische Kirche. Für den König bedeutete das, er konnte sich so oft scheiden lassen, wie er wollte, und immer wieder heiraten. Die katholische Kirche verlor damit den Einfluss im britischen Empire – in dem Staatengebilde, das zum mächtigsten aller Zeiten werden sollte.

Welche Rolle spielte der Vatikan zur Zeit des Nationalsozialismus?

In den Büros rund um das Geheimarchiv herrscht Hochbetrieb. Kurienbischof Sergio Pagano, der Präfekt der Einrichtung, und seine 55 Untergebenen arbeiten mit der Präzision von Profilern. Wieder und wieder nehmen sie sich jede einzelne Akte vor. Schrift entziffern, Codes entschlüsseln, Zusammenhänge einordnen – am Ende wird alles in die computergestützte Datenbank eingegeben. Alle 30 Jahre kommen riesige Aktenstapel dazu – immer dann schicken die diplomatischen Vertretungen des Vatikans ihre Dokumente nach Rom. Die jüngsten öffentlich zugänglichen Teile des Archivs sind etwa 70 Jahre alt. Wobei die Grenzen nicht nach Jahren gezogen werden, sondern nach Pontifikaten, also nach den Amtszeiten der Päpste. 

Jüngst sind Akten bis zum Tod von Pius XI. im Jahr 1939 einsehbar. In drei Jahren soll die Öffnung des spannendsten Archivteils der jüngsten Vergangenheit erfolgen: die Zeit von Pius XII. (1939–1958). Aus den in etwa 250.000 Pappschachteln archivierten Akten erwartet die Wissenschaft Aufschluss darüber, welche Rolle der Vatikan zur Zeit der Nationalsozialisten und im Kalten Krieg spielte. Es gibt noch immer Geheimnisse in den labyrinthischen Gängen des riesigen Archivs unter der bronzenen Pinienzapfenstatue.
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