- Johanna Böhnke
Gibt es in Deutschland Ghettos?
Wenn es um sozial schwache Viertel in Deutschland geht, würde Marcel Helbig nicht von Ghettos sprechen. „Ghettoisierung passt im US-Kontext, aber auch teilweise in Mega-Citys in Schwellenländern“, erklärt der Sozialwissenschaftler. Am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) erforscht er die sogenannte soziale Segregation in deutschen Städten.
Segregation bedeutet die räumliche Abbildung sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft. Wer in der Stadt wohnt, kennt das Phänomen, dass sich soziale Gruppen unterschiedlich auf Wohnstandorte verteilen.
Helbig veröffentlichte unter anderem 2018 eine Studie, die zeigt, wie stark die soziale Spaltung zwischen 2005 und 2014 vorangeschritten ist. Trotzdem sind die Viertel, in denen vermehrt Menschen wohnen, die von einer Grundsicherung für Arbeitsuchende leben, keine Ghettos.
Woher kommt der Begriff „Ghetto“?
Der Begriff „Ghetto“ stammt aus dem Italienischen und wird von „geto“, was Gießerei bedeutet, abgeleitet. Er geht auf ein jüdisches Wohngebiet in Venedig zurück, das sich in unmittelbarer Nähe einer Gießerei befunden haben soll. Die jüdische Bevölkerung wurde damals gezwungen, in separaten Vierteln zu leben. Auch die in Polen und Tschechien errichten Wohngebiete für Juden im Zweiten Weltkrieg wurden von den Nationalsozialisten als „Ghetto“ bezeichnet. Später wurde der Begriff in den USA unter anderem für Viertel mit einer überwiegend schwarzen, armen Bevölkerung benutzt, die ihren Ursprung ebenfalls zu Zeiten der gesetzlichen Rassentrennung hatten.
Umgangssprachlich wird er heute auch in Deutschland für Problembezirke verwendet, doch der Vergleich hinkt, sind die Ursachen für soziale Segregation hier doch oft anders begründet und die Folgen kaum vergleichbar.
Die soziale Spaltung in Deutschland wächst
Einen wichtigen Grund für die soziale Segregation in deutschen Städten sieht Marcel Helbig darin, dass seit der Wiedervereinigung nur noch wenig in den sozialen Wohnungsbau investiert wird. „Früher hat der Staat viel stärker in die Stadtentwicklung eingegriffen, das würde man heute fast schon als Sozialismus bezeichnen“, erklärt er. Werden neue Sozialbauten geschaffen, dann meist dort, wo ohnehin schon eine tendenziell ärmere Bevölkerung lebt. Das liegt oft daran, dass es hier mehr Leerstände gibt, die Mieten günstiger sind.
Durch die Flüchtlingswelle zwischen 2014 und 2017 hat sich dieses Phänomen noch einmal verstärkt, wie Marcel Helbig und seine Kollegin Stefanie Jähnen in einer weiteren WZB-Studie zeigen konnten. „In Städten in Süddeutschland wie München, wo der Wohnraum knapp ist, konnte der Zuzug nicht geballt in einzelnen Vierteln stattfinden, wodurch sich Zuwanderung breit verteilte.
In Städten mit Vierteln mit viel Leerstand – unter anderem im Osten oder im Ruhrgebiet – erfolgte Zuwanderung in diese Viertel. Hier war die Ballung armer Menschen auch zuvor bereits hoch“, berichtet Helbig. Wo sich sozial benachteiligte und begehrte Viertel herausbilden, hängt oftmals von der bau- und sozialgeschichtlichen Entwicklung von Städten ab. Es gibt keine Faustformel dafür, wo sie zu finden sind. In vielen Städten im Osten etwa sind es die Plattenbauten in den Außenbezirken, in denen heute nur wenige leben wollen.
Frühere Problemviertel werden „hip“ – doch das schafft neue Probleme
Gentrifizierung bedeutet die Aufwertung eines Stadtteils z. B. durch dessen Sanierung oder Umbau. Allerdings mit der Folge, dass die dort vorher ansässige Bevölkerung durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt wird.
Zentrale Stadtteile wie Berlin-Neukölln oder Berlin-Wedding gelten zwar immer noch als Problemviertel, doch mit steigenden Mieten in den restlichen Innenstadtbezirken zieht es hier immer mehr Studierende und Berufstätige hin. Das kann einen Stadtteil zwar zunächst aufwerten, bringt aber auch Probleme mit sich, denn das treibt die Mietpreise in die Höhe. Die Gentrifizierung vertreibt die einstigen Bewohner in die Außenbezirke.
Eine Auswertung der Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass die Anzahl von Hartz-IV-Empfängern in den Bezirken Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln zwischen 2007 und 2020 stark abgenommen hat. In den Randbezirken Reinickendorf, Spandau und Marzahn-Hellersdorf hingegen ist sie proportional gestiegen.
Dieses Phänomen zeigt sich teils sogar über Stadtgrenzen hinaus. Weil das Wohnen in Frankfurt immer teurer wird, zieht es Menschen ins benachbarte Offenbach, eine Stadt, die lange Zeit als die schmutzige, kleine Schwester Frankfurts galt. Mittlerweile wird Offenbach immer hipper. „Durch den Zuzug von Menschen, die in Frankfurt leben, sich die Mieten aber hier nicht leisten können oder wollen, sinkt der Anteil Arbeitsloser in Offenbach erst einmal prozentual“, berichtet Marcel Helbig.
Langfristig könnte jedoch auch das dazu führen, dass Arbeitslose und Geringverdiener aus ihren bisherigen Bezirken vertrieben werden und sich in bestimmten Wohngegenden ballen. Es entsteht ein Teufelskreis, der sich nur noch schwer brechen lässt, zum Beispiel indem Kommunen wieder intensiver in Sozialwohnungen und eine gleichmäßige Verteilung dieser investieren.
Unsere Kinder sind die großen Verlierer
Unter der räumlichen Ballung finanzschwacher Haushalte leiden vor allem die betroffenen Kinder. Zum Zeitpunkt der Studie von Helbig und Jähnen gab es bereits in 36 von 74 Städten Quartiere, in denen mehr als die Hälfte der Kinder von einer Grundsicherung für Arbeitslose lebte. Studien zeigen immer wieder, dass sich die soziale Herkunft auf den Bildungserfolg der Kinder auswirken kann.
Ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte etwa 2018 fest, dass sich soziale Ungleichheit im Laufe der Schulzeit immer weiter verstärkt. Das wird auch mit den regionalen Unterschieden erklärt. „Die Schulen in Problembezirken haben ganz andere Herausforderungen. Wenn in einer ersten Klasse etwa ein Großteil der Kinder kein oder nur wenig Deutsch spricht, ist es für die Lehrkräfte viel schwerer, diese auf den gleichen Stand zu bringen, den Schüler in anderen Schulen haben“, erklärt Marcel Helbig.
Wohlstand macht blind
Unter der sozialen Segregation leiden vor allem die Menschen in den ärmeren Stadteilen, sie haben weniger Freizeitangebote und schlechtere Bildungs– und damit Lebenschancen. Aber auch auf der anderen Seite sieht Marcel Helbig ein Problem: „So lange die Gutverdiener nur unter sich bleiben, sehen sie die Probleme, die soziale Ungleichheit schafft gar nicht.“ Und das wiederum führt dazu, dass sich nur wenige dafür einsetzen, dass sich etwas ändert.