Kulturelle Aneignung gehört seit Jahren zum Rassismus-Diskurs in den USA
Der Begriff „kulturelle Aneignung“ kommt – wie so oft – aus den USA und heißt dort „cultural appropriation.“ Der Begriff wurde dort in den Achtzigerjahren zuerst an Universitäten populär. Er wurde damals hauptsächlich in Diskussionen über Kolonialismus sowie in Debatten über die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen verwendet.
Es dauerte nicht lange, bis der Begriff auch Teil des öffentlichen Diskurs über Diskriminierungsthemen im US-amerikanischen Alltag wurde. Was kulturelle Aneignung letztendlich ist, lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
- Bestimmte Aspekte des Lebensstils von Minderheiten werden häufig von der dominierenden Kultur negativ bewertet.
- Dennoch kommt es immer wieder vor, dass Mitglieder der dominierenden Kultur bestimmte Aspekte des Lebensstils von Minderheiten imitieren.
- In dieser imitierten Form werden diese kulturellen Aspekte oft bei anderen Mitgliedern der dominierenden Kultur als positiv wahrgenommen. Sie wirken nun exotisch und originell.
- In den meisten Fällen profitiert jedoch nur die dominierende Kultur von diesem Kulturaustausch, während der Status der imitierten Minderheit unverändert bleibt.
- Darüber, ob dieser „Kulturdiebstahl“ grundsätzlich verwerflich ist oder nur in bestimmten Fällen, lässt sich trefflich diskutieren.
Kulturelle Aneignung lässt sich somit auf fast alles anwenden – von Kleidung und Frisuren über Sprache bis hin zu Musik. Das kann seltsame Blüten treiben. So wurde Popstar Billie Eilish etwa vorgeworfen, sich nicht ausreichend bei der schwarzen Community in den USA bedankt zu haben. Und das, obwohl ihre Musik zahlreiche Elemente schwarzer Musik enthielte. Wie praktisch jeder moderne Popsong übrigens.
Dass dieser vorgebliche Kulturdiebstahl auch ein Ausdruck der Wertschätzung der Ursprungskultur sein könnte, scheint in derartigen Diskussionen regelmäßig ausgeklammert zu werden. Wohl eben, weil negative Nachrichten auch im öffentlichen Diskurs besser ziehen als positive.
Bisherige Opfer der Diskussion in Deutschland: Träger verfilzter Frisuren und Wilder-Westen-Fan-Fiction
Wie fast alles aus den USA schwappte der Diskurs durch einfallslose Influencer und Journalisten auch schließlich zu uns herüber. Seinen bisherigen Höhepunkt in Deutschland fand der Aufreger-Export 2022 im Fall eines Events der Fridays-for-Future-Bewegung. Hier wurde die Sängerin Ronja Maltzahn wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen und durfte am eigenen Leib spüren, was Cancel Culture bedeutet. Man warf ihr kulturelle Aneignung vor, da das Tragen von Dreadlocks nur Mitgliedern der Rastafari-Bewegung zustünde.
Im selben Jahr ist auch der Verleger der Begleitbücher des Kinderfilms „Der junge Häuptling Winnetou“ ins Kreuzfeuer geraten. Deren klischeehafte Darstellung der amerikanischen Kolonialzeit war ein gefundenes Fressen für alle, die sich im deutschsprachigen Raum über kulturelle Aneignung aufregen wollten.
Das Oktoberfest ist kulturelle Aneignung par excellence
Laut der mexikanischen Anthropologin Marta Turok bedeutet kulturelle Aneignung hauptsächlich die Kommerzialisierung einer Tradition ohne ausdrückliche Zustimmung ihrer Schöpfer. Können Sie einen handfesten Beweis ausfindig machen, dass die Erfinder von Maß, Lederhosen, Dirndl und Weißwurst jemals Nicht-Bayern erlaubt haben, diese traditionellen Kulturgüter zu gebrauchen? Wir jedenfalls nicht.
Und wenn das Oktoberfest eines ist, dann wohl der Gipfel des Kommerz! Und noch schlimmer: Millionen von Menschen strömen momentan wieder nach München, um sich all diese herrlichen Kulturgüter so lange anzueignen, bis nur noch ein paar übel riechende Pfützen auf dem Westhügel übrig sind. Dagegen muss doch etwas getan werden!
Hier noch ein paar Kulturgüter, die eindeutig kulturelle Aneignung sind und deshalb schnellstmöglich gecancelt gehören:
Bier – sofort canceln!
Zuerst empfehlen wir, dass die Veranstalter des Oktoberfests mit den Sumerern Kontakt aufnehmen und sich die Erlaubnis für den Verkauf von Bier einholen. Die Sumerer brauten erwiesenermaßen im 4. Jahrtausend das erste Bier, indem sie aus Getreide Malz herstellten, daraus Brote backten und diese in Wasser vergären ließen.
Fußball – sofort canceln!
Fußball verdreht der halben Welt den Kopf – und könnte dabei kommerzieller nicht sein. Erfunden wurde der populäre Sport, wie wir ihn heute kennen, jedoch im 19. Jahrhundert in England. Wer somit auf dem Rasen einen unschuldigen Lederball malträtieren möchte – oder anderen dabei zusehen möchte –, sollte daher zuerst King Charles III. um Erlaubnis fragen.
Schlager – sofort canceln!
Die Ursprünge des Schlagers stammen aus Wien. 1881 wurde der Begriff in der Wiener-National-Zeitung zum ersten Mal als Bezeichnung für ein eingängiges, populäres Musikstück gebraucht. Das waren zu Beginn Stücke aus Operetten wie „Die Fledermaus“ von Johann Strauss. Wir sind sicher, dass der Walzerkönig Strauss kinderliedartige Kommerz-Machwerke wie „Layla“ und „Atemlos“ niemals durchgewunken hätte.
Disco – sofort canceln!
Die Erfindung von Disco wird oft der schwarzen Community in den USA zugeschrieben. Stilprägend für den Disco-Sound war jedoch der italienische Produzent und DJ Giorgio Moroder. Es ist nicht bekannt, ob Moroder jemals nicht-italienischen Künstlern erlaubte, sich seinen Sound anzueignen.
Techno – sofort canceln!
Wer hat’s erfunden – Kraftwerk? Sven Väth? Weit gefehlt! Als wahre Geburtsstätte der stampfenden Maschinen-Beats aus dem Roland-808-Drumcomputer gelten Underground-Clubs in den Vororten von Detroit. Frühe Techno-DJs wie Juan Atkins, Kevin Saunderson und Derrick May würden sicherlich von den Tonaufnahmen musikalischer Leichtgewichte wie Scooter oder Blümchen Ohrenkrebs bekommen.
Die Lederhose – Zeit für ein kleines Zugeständnis
Wir geben es ja zu: Die Lederhose kommt weder aus Bayern, noch aus Österreich, noch aus dem deutschsprachigen Raum. Als ihr Urahn gilt die Culotte aus Frankreich. Das ist eine knielange Hose aus Samt, Seide oder Leder, die in Frankreich bei Hofe getragen wurde. Haben wir uns die Lederhose also kulturell angeeignet, ohne um Erlaubnis zu fragen? Die Antwort heißt wohl Ja – aber bitte nicht weitersagen!
Ist der Gebrauch des Begriffs „kulturelle Aneignung“ in Europa bereits kulturelle Aneignung?
Kulturelle Aneignung wird wohl noch eine Weile ein Begriff bleiben, den man zuverlässig googeln kann, um sich ein paar Minuten aufzuregen. Bis schließlich wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Allerdings: Eigentlich ist es ja bereits kulturelle Aneignung, das aus dem US-amerikanischen Rassismus-Diskurs stammende Konzept auf unsere hiesigen Verhältnisse zu übertragen. Aber wir wollen ja nicht zu spitzfindig werden, host mi?