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Wohlbefinden statt Wohlstand: Bhutan und die Vermessung des Glücks

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Wohlbefinden statt Wohlstand: Bhutan und die Vermessung des Glücks

Seit knapp 40 Jahren steht in Bhutan anstelle des Bruttoinlandsproduktes das Bruttonationalglück an erster Stelle. Und das wurde in einem einzigartigen Projekt berechnet. Doch geht Bhutans alternative Gleichung auf?

Eingebettet zwischen Tibet und Indien liegt das Königreich Bhutan. Durch seine Nähe zu Tibet ist die Landschaft Bhutans stark vom Himalaya-Gebirge geprägt. Hier hat die Natur noch die Oberhand: In der Verfassung ist der Umweltschutz fest verankert. Die buddhistische Glaubensrichtung, die von knapp Dreiviertel der Bevölkerung praktiziert wird, spielt dabei eine bedeutende Rolle:

Sie lehrt rechtes Handeln, rechte Absicht und Achtsamkeit, um Leid zu vermeiden und Glück zu erlangen – und das Glück der Bevölkerung ist immerhin seit knapp drei Jahrhunderten oberstes Ziel des Königreichs. Tatsächlich festgeschrieben in der nationalen Verfassung wurde es aber erst im Jahr 2008, Artikel 9, Absatz 2: „Der Staat bemüht sich, jene Bedingungen zu fördern, die das Streben nach Bruttonationalglück ermöglichen.“

Was aber ist Glück?

Für die Menschen in Bhutan ist Glück mehrdimensional, eine Art Kollektiv, das sich nicht nur auf die subjektiv empfundene Zufriedenheit beschränkt, sondern immer das Wohl der Nation im Blick hat. Schon im 18. Jahrhundert sah das Gesetzbuch Bhutans vor, dass eine Regierung, die es nicht schafft für die Zufriedenheit ihrer Bürger zu sorgen, sinnlos ist und gestürzt werden muss.

Das Bruttonationalglück rückte allerdings erst über 200 Jahre später auf die Agenda: 1972 wurde der damals erst 17-jährige Jigme Singye Wangchuck zum vierten Drachenkönig Bhutans ernannt. Sein Ziel war es, eine moderne Wirtschaftsentwicklung im Land voran zu treiben, die der Erhaltung von Bhutans einzigartiger Kultur dient und auf buddhistischen Werten basiert.

Den typisch westlichen Gedanken: „Je höher das Bruttoinlandsprodukt, desto höher auch der Wohlstand im Land“ schloss Wangchuck für Bhutan aus. Er erkannte, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eine sehr unsichere Größe für die ihm wichtige Zufriedenheit seiner Bürger ist: Arbeiten sich billige Arbeitskräfte in einem Land die Hände wund, steigt mit den Verkaufszahlen auch das Wirtschaftswachstum – doch den ausgebeuteten Menschen geht es sehr schlecht. Zudem schien es ihm unsinnig, das BIP in einem Land zu ermitteln, das sich erst 1966 mit einer Teerstraße nach Indien der Welt öffnete und dessen Staatsbürger zu großen Teilen Selbstversorger sind.

Ein weltweit einzigartiges Glückskonzept

Für Jigme Singye Wangchuck war klar: Jeder Mensch strebt nach Glück. Also sollte es auch das Ziel eines sich entwickelnden Landes sein, wirtschaftliche und politische Interessen mit der Zufriedenheit der Bürger zu vereinen und damit das Glück jedes Einzelnen zu fördern.

Um das zu erreichen, rief Wangchuck ein weltweit einzigartiges Konzept ins Leben: das Bruttonationalglück. Und das stellt er auf vier tragende Säulen: das Bewahren und Fördern der Kultur, ein Leben im Einklang mit der Natur, eine gerechten Wirtschaftsentwicklung und gute Regierungsstrukturen.

Denken Sie daran, sich zu ertränken oder von einem Berg zu stürzen?“

Jede politische Entscheidung, jede wirtschaftliche Investition muss danach geprüft werden, ob sie dem Allgemeinwohl dient. Doch wie erfährt man, was sich die Bevölkerung wünscht, was sie glücklich macht, was ihr fehlt? Wie kann man das Glück eines Landes vermessen? Um einen seelischen Status quo ermitteln zu können, steckte Bhutans Regierung im Jahr 2005 erstmals Indikatoren ab, mit denen Glück konkret messbar werden sollte.

Drei Jahre später wurde eine Kommission einberufen, die am „Centre for Bhutan Studies“ einen riesigen Katalog von 249 Fragen zu neun Bereichen, darunter Gesundheit, Bildung und guter Staatsführung, zusammenstellte.

Im April 2010 machten sich 55 Mitglieder der Kommission in einem großangelegten Projekt auf den Weg zu über 8000 Haushalten – im abgelegen Dorf bis zur pulsierenden Großstadt – und stellten Fragen wie: „Wie sehr genießen Sie ihr Leben?“, „Denken Sie daran, sich zu ertränken oder von einem Berg zu stürzen?“ oder „Wie viele Beamte sind Ihrer Ansicht nach korrupt?“

Ein Leben über dem durchschnittlichen Bruttonationalglück

Die Kommission bezeichnet das Projekt als „living experiment“ – als lebendes Experiment. Knapp zwei Jahre dauerten die Vermessung des Glücks und deren Auswertung. Seither weiß die Regierung: Rund 41 Prozent der Bevölkerung lebt über dem durchschnittlichen Bruttonationalglück. Nur knapp elf Prozent fühlen sich unglücklich. Wirft man einen Blick auf die Stellen, an denen der Schuh drückt, fühlt sich die ländliche Bevölkerung vor allem im Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, modernen Lebensstandards und einer ausgeglichenen Zeiteinteilung benachteiligt.

Unglücklichen Stadtmenschen hingegen fehlt es an Gemeinschaftsgefühl, Kultur und einem gesunden seelischen Zustand. Vielen ist es auch wichtig, selbstständig und nicht von anderen abhängig zu sein. Besonders Korruption bereitet vielen Bürgern Sorgen. Die Ergebnisse sind da. Nun liegt es an der Regierung auf sie zu reagieren: Wie lassen sich zukünftige Projekte und Regelungen mit den aktuellen Bedürfnissen der Bevölkerung in Einklang bringen? Diese eine Frage muss sich die Regierung nun selbst stellen.

Ein lebendes Experiment verbreitet sich

Richtig – das Streben nach Glück ist prinzipiell keine neue politische Erfindung: Die USA haben den Gedanken bereits 1776 in ihrer Verfassung als menschliches Grundrecht festgelegt. Allerdings ist die kapitalismuskritische Umsetzung Bhutans neu – und regt andere Länder zum Nachdenken an.

Viele Politiker haben verstanden, dass das BIP allein nicht ausreicht, um auf die tatsächliche Lebensqualität der Bürger zu schließen. Soziale und ökologische Aspekte werden beim alleinigen Betrachten des BIPs komplett ausgeklammert. Haben die steigenden Ausgaben die Bürger belastet? Schadet die wachsende Holznachfrage der Natur nachhaltig?

2008 hat der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy den Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz sowie zwei weitere bedeutende Ökonomen damit beauftragt, neue Maßstäbe zu entwickeln, um die Lebensqualität eines Landes umfassender zu bestimmen. Premierminister James Cameron fand sich ebenfalls in der Pflicht, eine Initiative zur Vermessung des National Well-Beings – des Nationalen Wohlstands – einzuleiten. Und im deutschen Bundestag befasst sich seit Anfang 2011 eine spezielle Kommission mit „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“. Inspiriert – oder ermahnt – vom Beispielland Bhutan, haben alle drei das Ziel, ihr vorzeigbares BIP um den ethischen Wohlfühlfaktor zu erweitern.

Utopische Träumerei eines Idealisten oder Schlüssel zum weltweiten Glück?

Ist der Weg von Jigme Singye Wangchuck mehr als die noble Idee eines Idealisten? Birgt dieser Weg den Code in sich, wie man unsere Welt in einen besseren Ort verwandelt? 2013 werden erstmals offiziell kritische Stimmen aus dem eigenen Land laut: Ministerpräsident Tshering Tobgay zweifelt an Wangchucks Maxime.

Sie habe von den Problemen des Landes, wie der wachsenden Verschuldung, abgelenkt und könne diese auch nicht beseitigen. Eine 180-Grad-Drehung hin zum kapitalistischen Wirtschaftswachstum komme für ihn allerdings auch nicht in Frage. Was also ist des Rätsels Lösung?

So nah Bhutan dem Entschlüsseln der Glücksformel auch ist, scheint sich der weltweit diktierende Faktor Wirtschaft nicht so leicht den edlen ethischen Werten unterzuordnen.

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