Ein unauffälliger Student
Hört man den Namen Stephen Hawking, hat man automatisch einen zerbrechlich wirkenden Mann im Rollstuhl vor Augen, der sich mit Hilfe einer Computerstimme artikuliert. Dabei wirkt der 1942 geborene zu Beginn seines Studiums in Cambridge so gesund wie seine Kommilitonen (links im Bild wird Hawking im Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ dargestellt von Eddie Redmayne). Immer häufiger jedoch muss der der 21-Jährige feststellen, dass seine Beine nicht mehr tun, was er will…
Das Ende der Welt
So wie er später die Welt der Physik auf den Kopf stellen wird, bricht Hawkings Welt 1963 zusammen. Mit 21 Jahren erfährt er, dass er an einer seltenen, unheilbaren Krankheit leidet: Amyotrophe Lateralsklerose, abgekürzt ALS. Die degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems ist dafür bekannt, dass sie schnell voranschreitet. Die Ärzte geben dem jungen Mann höchstens zwei Jahre verbleibende Lebenszeit. Hawkings steht unter Schock. Er gibt sich im ersten Moment auf und schottet sich ab. Auch seine Forschung über die Zeit und den Ursprung des Universums legt er ad acta. Doch ein Mensch schafft es, zu ihm durchzudringen …
Eine filmreife Romanze
Hawkings Kommilitonin Jane, die er auf einer Studentenparty kennengelernt hat, ist seine große Liebe. Als sie von seiner Krankheit erfährt, bleibt sie bei ihm. Jane wird zur starken Frau an der Seite eines starken Geistes in einem schwachen Körper. Doch die Liebe der beiden wird von Anfang an von den Vorzeichen ihres Endes überschattet: Schon bei der Hochzeit muss Hawking einen Krückstock tragen. Später schreibt Jane Hawking ihre Memoiren „Die Liebe hat elf Dimensionen: Mein Leben mit Stephen Hawking“. Das Buch wird zur Vorlage für den Oscar-prämierten Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“.
Wettlauf gegen die Zeit
Mit Jane hat Stephen Hawking drei Kinder. „Wir kämpften hart darum, trotz meiner Krankheit eine normale Familie zu sein“, sagt Hawking. Die Ärzte erklären ihm, dass sein brillanter Geist bis zum Ende weiter wach bleiben wird, er aber Stück für Stück die Fähigkeit verlieren wird, seine Gedanken zu artikulieren. Ein Wettrennen gegen die Zeit beginnt, denn es stellt sich die Frage, ob Stephen Hawking seine Gedanken über die Entstehung und Entwicklung des Universums und über schwarze Löcher ungehört mit ins Grab nehmen muss oder ob er der Welt seine bahnbrechenden Ideen hinterlassen kann, bevor die Krankheit seinen Kontakt zur Außenwelt vollständig kappt …
Der Geist bleibt frei
Die Zeit ist nicht nur das bestimmende Thema in Hawkings eigenem Leben, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Er macht sich auf die Suche nach den Anfängen der Zeit, will herausfinden, wann das Universum entstand und wann es enden wird. Die von den Ärzten diagnostizierte Beschränkung seiner eigenen Lebenszeit bremst Hawking dabei nicht aus. Im Gegenteil: In dem Maße, wie die Krankheit seinen Körper schwächt, schwingt sich sein Geist zu immer neuen Höhenflügen auf. Im Gegensatz zu Hawking haben die Ärzte unrecht, was die Zeit angeht: Der Totgesagte Hawking lebt viel länger als die prognostizierten zwei Jahre. In jahrzehntelanger Forschung entwickelt er Konzepte über die Dimensionen von Zeit und Raum im Universum, welche die Physik nachhaltig verändern. Deshalb gilt Hawking als der neue Einstein.
Zeit für ein Buch über die Zeit
Als es ihm unmöglich wird, zu schreiben und auch das Sprechen immer schwerer fällt, diktiert er seiner Frau seine Gedanken. Das Ergebnis wird nicht nur von der Fachwelt mit größter Anerkennung aufgenommen, sondern es wird auch zu einem Bestseller: „A Brief History Of Time“ („Eine kurze Geschichte der Zeit“) verkauft sich weltweit über zehn Millionen Mal. Hawking, der normalerweise die Welt in Staunen versetzt, ist diesmal selbst überrascht: „Nie hätte ich damit gerechnet, dass mein Buch ein solcher Erfolg werden würde.“ Mehr als vier Jahre steht es auf der Bestsellerliste – länger als irgendein anderes Buch. „Das ist für ein Werk, das sich mit Wissenschaft befasst und nicht gerade zur leichten Kost zählt, recht bemerkenswert", stellt Hawking mit Understatement fest.
Was ist ALS?
So kennt man Hawking: Seit 1968 ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Körperlich gefesselt, doch geistig grenzenlos reiste er bis zu seinem Tod 2018 durch das ganze Universum. Doch was genau verbirgt sich hinter der Diagnose ALS? Die für Muskelbewegungen verantwortlichen Motorneurone werden zunehmend und irreversibel geschädigt. Die Folgen der Muskel-Lähmungen sind unter anderem Geh- und Sprechstörungen sowie eine eingeschränkte Koordination von Armen und Händen. Der Tod tritt häufig aufgrund einer Lähmung der Atemmuskulatur und Lungenentzündung ein. Üblicherweise liegt die Lebenserwartung nach Ausbruch bei drei bis fünf Jahren, doch lag bei Hawking eine chronisch juvenile ALS vor. Diese nimmt einen deutlich langsameren Verlauf. Öffentlich bekannt wurde die seltene Krankheit nicht nur durch Stephen Hawkings Lebensgeschichte, sondern auch durch das Mitte 2014 gestartete Ice Bucket Challenge-Phänomen in den sozialen Medien.
Können Augenbrauen sprechen?
Trotz der zunehmenden Beeinträchtigungen verlor Hawking weder seine Lebensfreude noch seine Leidenschaft für die Physik. Seine Frau trug dazu bei, dass der geniale theoretische Physiker und Astrophysiker seinen Kampf um die verbleibende Zeit nie aufgab. 1985 – 22 Jahre nach der Diagnose der Krankheit – mussten Ärzte nach einer lebensbedrohenden Lungenentzündung bei Hawking ein Luftröhrenschnitt machen. Er überlebte, verlor jedoch völlig die Fähigkeit zu sprechen. Mit der oben gezeigten Tafel konnte er dennoch kommunizieren. Wenn sein Gesprächspartner auf den richtigen Buchstaben auf einer Tafel deutete, zog er eine Augenbraue hoch. Hier war Ausdauer gefragt, denn die Muskelschwäche beeinträchtigte zunehmend seine Mimik. Niemand konnte Hawkings Gesichtssprache besser lesen als seine tägliche Weggefährtin und große Liebe Jane. Sein „Ja“ ist eine Art Lächeln, sein „Nein“ eine Grimasse.
Die Stimme des Kosmos
Mit der modernsten Technik der damaligen Zeit gelingt das Unmögliche: Ein Sprachcomputer verleiht Hawking die verlorene Möglichkeit, sich verbal auszudrücken. Die etwas befremdlich klingende Computerstimme ist bis heute untrennbar mit dem öffentlichen Bild von Stephen Hawking verbunden. Zunächst kann Hawking mit einem Taster in der Hand Begriffe aus einer Liste auf dem Bildschirm wählen, die dann von dem Sprachgenerator ausgesprochen werden. Mit etwas Übung bringt er es auf bis zu fünfzehn Wörter pro Minute. Später werden seine Finger zu schwach. Das Nachfolgemodell seines Sprachcomputers kann er daher mit seinem rechten Wangenmuskel steuern. Seit die nachlassende Wangenmuskulatur auch das nicht mehr erlaubt, wird die Bewegung seiner Augen zur Steuerung des Computers genutzt. Eins allerdings ist unverändert geblieben: Auf Wunsch von Hawking wird die ursprüngliche Stimme der Sprachausgabe beibehalten, obwohl sie leicht roboterhaft wirkt - Hawking hat sie über die Jahre als Teil von sich selbst angenommen.
Newtons Erbe
Dass man ihm an der Uni freie Hand für seine später so einflussreichen Arbeiten gab, vergisst Hawking nie. Aus Dankbarkeit bleibt er der Wiege seiner wissenschaftlichen Tätigkeit lange treu. Von 1979 bis 2009 ist er Inhaber des Lucasischen Lehrstuhls für Mathematik im Fachbereich für angewandte Mathematik und theoretische Physik in Cambridge. Eine ganz besondere Anstellung für einen Professor, wenn man bedenkt, wer diesen Lehrstuhl vor ihm innehatte – der Naturforscher Sir Isaac Newton im 17. Jahrhundert und später Paul Dirac, Mitbegründer der Quantenphysik. Hawking steigt in Diracs Fußstapfen, denn er widmet sich einer quantenmechanischen Interpretation der Schwarzen Löcher.
Ein neuer Urknall der Wissenschaft
Hawkings Arbeiten zur Kosmologie gelten als bahnbrechend und werden mit zahlreichen Auszeichnungen honoriert. Bekannt wird er in den Sechziger Jahren für den Beweis der notwendigen Existenz von Singularitäten (z.B. von Schwarzen Löchern) in der allgemeinen Relativitätstheorie unter sehr allgemeinen Voraussetzungen – was für Laien unverständlich klingt, war in den Augen der Wissenschaftler ein Urknall für neue Ideen. 1974 setzt er sich selbst ein Denkmal mit der sogenannten „Hawking-Strahlung“. Diese zerstrahlt schwarze Löcher je nach deren Masse schneller oder langsamer. Für Nicht-Physiker bleibt dies kryptisch, doch für die Quantenfeldtheorie ist die „Hawking-Strahlung“ von großer Bedeutung.
Die Entdeckung der Unendlichkeit
In den 80er Jahren wagt Hawking sich an den Versuch, die offenen Fragen in Einsteins Theorien aufzulösen – mit kühnen Thesen wie: „Die Randbedingung des Universums besteht darin, dass es keinen Rand hat.“ Hawking hält für die Entstehung allen Seins das Konzept eines Gottes für unnötig. Er glaubt an spontane Schöpfung: „Wenn das Universum wirklich völlig in sich selbst abgeschlossen ist, wenn es wirklich keine Grenze und keinen Rand hat, dann hätte es auch weder einen Anfang noch ein Ende; es würde einfach sein.“ Hawkings größter Traum blieb bisher unerfüllt – eine physikalische Theorie von allem, welche die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie zu einem harmonischen Ganzen verbindet.
Das Funkeln zweier Sterne
„Die übliche Methode, nach der die Wissenschaft sich ein mathematisches Modell konstruiert, kann die Frage, warum es ein Universum geben muss, welches das Modell beschreibt, nicht beantworten“, sagt Hawking. Er bricht auf, Grenzen des Denkens zu überwinden, um die Gesetze zu entdecken, die das ganze Universum regieren. Den Grund für seine nimmermüde Suche nach der Weltformel in der Physik und Kosmologie bringt er lakonisch auf den Punkt: „Ich möchte wissen, was da draußen ist.“ Hawking ist Mitglied der Royal Society und der US National Academy of Sciences. Es gibt viele Gründe, das Jahrhundert-Genie zu bewundern. Einer der wichtigsten: Der ALS-Patient hat sein Lächeln und das Funkeln in seinen Augen nie verloren.
Erfolg trotz aller Hindernisse
Stephen Hawking mit dem Schauspieler Eddie Redmayne, der den Physiker im Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ so glaubwürdig darstellte, dass er den Oscar als bester Hauptdarsteller gewann. Redmaynes überragende Leistung überzeugte nicht nur die Jury, sondern auch Stephen Hawking: „In manchen Szenen dachte ich, er wäre ich.“ Auf die Frage, warum die Menschen sich für sein Schicksal interessieren, meinte Hawking: „Es geht um Erfolg trotz aller Hindernisse. Die Geschichte zeigt, dass eine Behinderung einen nicht zwangsläufig in den eigenen Vorhaben behindern muss.“ Denn – und das ist eines der berühmtesten Zitate des Genies: „Ganz gleich wie schlimm das Leben auch sein mag: So lange es überhaupt Leben gibt, gibt es auch Hoffnung. “
Filmtipp: Die Entdeckung der Unendlichkeit
Der Film „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ erzählt nicht nur von der Liebe zur Physik, sondern auch von der Physik der Liebe. Eddie Redmayne und Felicity Jones verkörpern Stephen und Jane Hawking, Regie führte der Oscar-Preisträger James Marsh („Shadow Dancer“, „Man on Wire“). Das Drehbuch schrieb Anthony McCarten („Am Ende eines viel zu kurzen Tages“). Titel: „Die Entdeckung der Unendlichkeit“ (Original: „The Theory of Everything“), Format: DVD & Blu-ray, Verleih: Universal, DVD-Start: 7. Mai 2015, FSK: 0