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Ohne Worte: die Geheimnisse der Gebärdensprache

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Ohne Worte: die Geheimnisse der Gebärdensprache

Gehörlose Menschen kommunizieren mit Gebärden – und das schon seit Jahrhunderten. Doch wie funktioniert diese geheimnisvolle Sprache überhaupt? Wie ist Gebärdensprache entstanden und kann man wirklich alles damit ausdrücken?

Flinke, wild gestikulierende Hände, die offensichtlich die kompliziertesten Dinge ausdrücken: Gebärdensprache fasziniert viele Menschen. Leider bleibt die erstaunliche Sprache für die meisten ein Geheimnis, da sie im Alltag kaum Kontakt zu Gehörlosen haben. Doch was steckt hinter der Sprache ohne Stimme und wie funktioniert sie?

Sprechen ohne Stimme

Gebärdensprache hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt und ist in vielen Ländern als eigene Sprache anerkannt – zum Beispiel in Dänemark oder den USA und seit 2002 auch in Deutschland. Sie ist eine natürlich gewachsene und vollständige Sprache, die allein auf visueller Ebene funktioniert.

Sie setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen: Gestik, Körperhaltung, Mimik oder auch das Mundbild spielen dabei eine Rolle. Einzelne Gebärden unterscheiden sich zum Beispiel durch die Stellung der Hand, die Handform, die Bewegungsrichtung oder die Stelle am Körper, an der die Gebärde ausgeführt wird. Ein Beispiel: Ein gestreckter Zeigefinger auf der Stirn bedeutet „Polizei“, eine Faust auf der Stirn wiederum bedeutet „dumm“. Dieselbe Faust am Kinn steht für „Bauer“.

Ein komplexes Sprachsystem

Gebärdensprache ist nicht nur eine simple Aneinanderreihung von Zeichen und auch kein pantomimisches Gehampel. Ihr liegt eine eigene Grammatik zugrunde, die mit der deutschen Grammatik beispielsweise nichts zu tun hat. Hinter den vielen Handzeichen verbirgt sich ein komplexes Sprachsystem, mit dem sich alles ausdrücken lässt – von persönlichen Dialogen bis hin zu Fachgesprächen über Weltpolitik oder Mikrobiologie.  

Unterschiedliche Dialekte

Gebärdensprache ist nicht international, wie viele glauben. Es gibt hunderte verschiedener Gebärdensprachen, die sich überall dort entwickelt haben, wo Gehörlose miteinander in Kontakt kamen. So unterscheidet man neben der deutschen Gebärdensprache (DGS) etwa die amerikanische Gebärdensprache (ASL), die französische (LSF), britische (BSL), chinesische oder australische Gebärdensprache.

Außerdem gibt es zahlreiche Dialekte. In Deutschland zum Beispiel kann man grob vier Dialekte beschreiben: den Nord-, den Mitte- und den Süddialekt sowie den Ostdialekt. Gehörlose Menschen, die mit der Gebärdensprache aufgewachsen sind, empfinden sie als Muttersprache – die jeweilige Landessprache als Zweitsprache.

Viele hörende Menschen nehmen an, dass Gehörlose perfekt von den Lippen ablesen können. Das ist aber fast unmöglich. So haben zum Beispiel „Mutter“ und „Butter“ genau dasselbe Mundbild, und nicht immer lässt sich aus dem Zusammenhang erschließen, was gemeint ist. Experten gehen davon aus, dass mit entsprechender Schulung und Übung etwa dreißig Prozent eines Gesprächs zu verstehen sind.

Angeborene oder erworbene Taubheit

Taub ist nicht gleich taub. Insbesondere unterscheidet man zwischen Gehörlosen, die von Geburt oder frühester Kindheit an taub sind, und Spätertaubten. Taubgeborene haben von Geburt an keine Hörerfahrung. Ihre Gehörlosigkeit kann genetisch bedingt sein und vererbt werden oder aufgrund schädigender Einflüsse während der Schwangerschaft oder Geburt entstehen. Man unterscheidet dabei zwischen absoluter Gehörlosigkeit und relativer oder auch praktischer Gehörlosigkeit, bei der die Betroffenen über ein minimales Restgehör verfügen, mit dem sie Geräusche über etwa siebzig Dezibel wahrnehmen können.

Ertaubte Menschen dagegen haben ihr Gehör erst nach ihrer Geburt verloren, beispielsweise durch einen Unfall oder eine Krankheit. Wenn der Hörverlust erst nach dem natürlichen Alter des Lautspracherwerbs auftritt, also nach etwa dem dritten Lebensjahr, spricht man von Spätertaubung oder postlingualer Ertaubung. Je nach Zeitpunkt des Hörverlusts haben Ertaubte zum Teil gute lautsprachliche Fähigkeiten.

Das Wort „taubstumm“ ist veraltet

Das Wort „taubstumm“ wird heute nicht mehr verwendet. Zum einen ist es inhaltlich falsch, da Gehörlose ein normales Stimmvermögen besitzen, und gerade spätertaubte Menschen teilweise sehr gut sprechen können. Zum anderen wird diese Bezeichnung von Gehörlosen als diskriminierend empfunden.

Jeder Tausendste ist taub

Es gibt unterschiedliche Angaben über die Zahl gehörloser Menschen. Neuere Schätzungen gehen von etwa 250 Millionen Hörgeschädigter weltweit aus; siebzig Millionen davon sind absolut beziehungsweise praktisch gehörlos. Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass weltweit etwa 0,1 Prozent der Bevölkerung taub geboren werden. In Deutschland sind also etwa 80.000 Menschen gehörlos.

Gebärdensprache wurde nicht erfunden, sondern ist über Jahrhunderte hinweg überall dort entstanden, wo Gehörlose miteinander in Kontakt kamen. Für pädagogische Zwecke wurde sie im 18. Jahrhundert erstmals von dem französischen Geistlichen Abbé de L’Epée verwendet. Dieser hatte zwei verwaiste taube Mädchen bei sich aufgenommen und fasziniert beobachtet, wie die beiden sich mit Zeichen unterhielten. Er nahm später noch weitere gehörlose Kinder bei sich auf und gründete damit die erste Gehörlosenschule weltweit.

Vorwurf der „Behelfssprache“

Jedoch gab es auch Gegenbewegungen: Der deutsche Samuel Heinicke etwa, der ebenfalls Gehörlose unterrichtete, hielt Gebärden nur für ein Hilfsmittel, um seinen Schülern die Lautsprache beizubringen. Er verstand die Gebärdensprache nicht als eigene und vollständige Sprache, sondern als „Behelfssprache“, die gehörlose Kinder davon abhalte, sprechen zu lernen und sich damit in die Welt der Hörenden zu integrieren. Aufgrund dieser zwei gegensätzlichen Ideen entstand ein Jahrhunderte andauernder Streit unter Gehörlosenpädagogen, welche Methode nun die bessere sei.

Unterdrückung der Gehörlosenkultur

Im 19. Jahrhundert begann dann ein dunkles Kapitel für die Gebärdensprache. Auf dem “Mailänder Kongress” im Jahre 1880, an dem 255 amerikanische und europäische Lehrer teilnahmen, entschieden sich fast alle europäischen Länder, Gehörlose nur noch „oral“ zu unterrichten. Das bedeutet, dass die Schüler ausschließlich von den Lippen der Lehrer ablesen und selbst sprechen sollen. Die Gebärdensprache wurde in vielen Ländern aus dem Schulunterricht verbannt oder sogar verboten. Dies führte zu einer Unterdrückung der Gehörlosenkultur, die zum Teil bis zum heutigen Zeitpunkt anhält. Gehörlose Kinder konnten nur heimlich oder auf dem Schulhof gebärden, um sich ihre Sprache zu erhalten.

Anerkennung der Gebärdensprache

Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Gebärdensprache neu entdeckt. Jedoch: bis heute werden nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern, in denen die Gebärdensprache nicht anerkannt ist oder erst vor kurzem anerkannt wurde, die meisten gehörlosen Kinder nach der oralen Methode unterrichtet. Da das Sprechen lernen sehr zeitaufwändig ist, kommen andere Fächer oft zu kurz. Dadurch haben Gehörlose in diesen Ländern geringere Bildungschancen und ein höherer Schulabschluss wie etwa das Abitur, ist selten.

Bessere Bildungschancen in den USA

In den USA oder in Skandinavien verfolgte man andere Ideen: Hier wurde die Gebärdensprache viel selbstverständlicher verwendet und so gibt es mittlerweile zahlreiche Schulen und Studienmöglichkeiten und mit der Gallaudet University in Washington D.C. sogar eine eigene Universität für Gehörlose. Dort können sich Gehörlose als Rechtsanwälte, Ärzte, Naturwissenschaftler und vieles mehr ausbilden lassen. Neuseeland hat die Gebärdensprache – neben Englisch und Maori – sogar als Amtssprache anerkannt.

Gehörlosigkeit unterscheidet auch in anderer Hinsicht von anderen Behinderungen: Gehörlose haben nicht nur eine eigene Sprache, sondern auch eine eigene Kultur. Neben „Clubheimen“ und festen Vereinstreffpunkten sind außerdem große Sportveranstaltungen wie die „Deaflympics“ beliebt. Das Bild zeigt die Eröffnungsfeier der Deaflympics 2017 in Samsun, Türkei. Weit verbreitet sind außerdem kulturelle Veranstaltungen wie Kulturtage oder Festivals, mit Gehörlosentheater, Gebärdenpoesie, Kabarett, Tanz, Shows und vielem mehr. Gehörlose haben sogar eine eigene Witzkultur.

Deaf Pride und Deaf Power

Unter einige Gehörlosen gibt es ein sehr emanzipiertes Selbstverständnis, nach dem sich Gehörlose nicht als Behinderte definieren, sondern als ethnische Minderheit, die sich durch eine eigene Sprache und Kultur auszeichnet. Diese Bewegung nennt sich selbst „Deaf Pride“ oder „Deaf Power“ Bewegung.

Wissenschaft entdeckt die Gehörlosenkultur

Überall auf der Welt legen Gehörlose sehr viel Wert auf Respekt und die Anerkennung ihrer eigenen und besonderen Identität. Sie kämpfen für mehr Rechte und Chancen, und sie setzen sich für ein verändertes gesellschaftliches Verständnis von Gehörlosen und den Erhalt ihrer Kultur ein. Seit einigen Jahren werden sogar „Gehörlosen-Studien“ beziehungsweise „Deaf Studies“ als universitäres Fach – auch in Deutschland – gefördert. Dies zeigt: Hinter Gehörlosigkeit steckt weit mehr als eine Behinderung, sondern eine eigene kleine Welt.

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