Nachdem Cannabis für Jahrzehnte beinahe vollständig von der medizinischen Bildfläche verschwand, feiert es heute ein Comeback in der Wissenschaft – dank seines unglaublichen Potenzials für neue Medikamente und einer seltsamen Entdeckung im menschlichen Körper.
Seit einigen Jahren feiert die uralte Heilpflanze ein erstaunliches Comeback. Im Fokus stehen dabei zwei in der Pflanze vorkommende Stoffe – und eine seltsame Entdeckung im menschlichen Körper. Cannabinoide könnten sich in den nächsten Jahren zu einer echten Geheimwaffe der Medizin entwickeln. Die Möglichkeiten, die sich aus dieser Wirkstoffgruppe – vor allem THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) – ergeben, erscheinen nahezu unbegrenzt. Und der Grund dafür liegt nicht in der Pflanze selbst – sondern in unseren Zellen. Wissenschaftler haben im Menschen das sogenannte „Endocannabinoid-System“ entdeckt. Das heißt: Unser Körper ist nicht nur in der Lage, Cannabinoide selbst herzustellen, sondern diese Stoffgruppe ist auch für unsere Körperfunktionen anscheinend elementar – da beinahe jede Zelle im Körper einen von zwei Rezeptoren besitzt, an die Cannabinoide andocken können (sogenannte CB1- und CB2-Rezeptoren).
Mittlerweile weiß man, dass Cannabinoide für viele Prozesse im Körper eine wichtige Rolle spielen. Docken bestimmte Cannabinoide z.B. an einen CB1-Rezeptor an, werden Prozesse gestartet, die Schmerzen lindern. Das geschieht dadurch, dass eine Überaktivität im Schmerzregelkreis gehemmt wird. Cannabinoide beeinflussen überdies die Koordination von Bewegungen, die Steuerung des Immunsystems oder der Gedächtnisleistung. „Grob zusammengefasst, ist das körpereigene Endocannabinoid-System ein Ruhe-, Entspannungs- und Regenerationssystem des Körpers “, erklärt Professor Sven Gottschling, Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes.
Überdosen führen nicht zum Tod
Ein einmaliger Vorteil der Cannabis-Wirkstoffe: Ihre Rezeptoren sind nicht in jenen Teilen des Gehirns zu finden, die für unser Überleben entscheidend sind – in den Steuerbereichen für Atmung und das Herz-Kreislauf-System. „Auch bei extremen Überdosierungen kann es deshalb nicht zu Todesfällen kommen“, erklärt Gottschling. Das ist vermutlich auch der Grund dafür, dass bisher kein Todesfall durch die Einnahme von Cannabis-Präparaten bekannt ist. Ebenso sind kaum Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten bekannt, die durch die Einnahme von Cannabinoiden ausgelöst werden. Und um das einmal klar zu sagen: Durch den ärztlich gesteuerten Einsatz von im Labor isolierten Cannabinoiden kann man weder „high“ noch süchtig werden. Sogar das Führen eines Fahrzeugs ist erlaubt.
Die Bandbreite der modernen Cannabis-Medizin ist erstaunlich. „Ich erwarte mir relativ viel in der Zukunft in punkto Cannabinoid-Therapie, gerade bei Autoimmunerkrankungen“, erklärt Experte Gottschling. „Ich selbst behandle einige Patienten, z.B. auch Kinder und Jugendliche mit rheumatoider Arthritis oder mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Zudem gibt es präklinische Daten in punkto Demenz oder mit Blick auf Antitumoreffekte – sogar schon in ersten Kleinststudien an Menschen, zum Beispiel mit Hirntumoren –, da Cannabinoide sogenannte Tumor-Escape-Mechanismen von Krebszellen behindern. Es gibt auch Hinweise auf eine proapoptotische Aktivität von Cannabinoiden in Krebszellen“ – also sozusagen das Auslösen eines Selbstzerstörungsprogramms der entarteten Zellen.“
Held gegen Volkskrankheiten
Jahrzehnte nach seiner Verbannung könnte Cannabis auf diese Weise zum Helden gegen sogenannte Volkskrankheiten werden. Millionen Menschen leiden hierzulande an Reizdarm– oder Stress-Symptomen. Eine Studie der University of Aberdeen in Foresterhill, Schottland zeigt nun, dass mithilfe von Cannabinoiden womöglich sogar die Säureproduktion im Magen verringert werden kann. Und laut Professor Gottschling dient das „Endocannabinoid-System zur Erholung, der Wiederaufladung der Batterien – und dadurch durchaus der Angst- und Stressreduktion.“ So oder so entwickeln sich Cannabinoide zunehmend zu einem echten Game-Changer. Doch wieder scheint der Erfolg der Cannabis-Pflanze nicht überall Freude auszulösen.
Wie schon Anfang des 20. Jahrhunderts formiert sich Widerstand gegen den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Boom – von unerwarteter Seite: „Der Gesetzgeber hat hier erstmals die Krankenkassen gezwungen, nicht zugelassene Medikamente erstattungspflichtig zu machen. Das macht den Kassen Angst, weil damit die Therapiehoheit von den Kostenträgern zu den Ärzten wandert“, erklärt Professor Gottschling. In der Praxis bedeutet das, dass in vielen Fällen und trotz der Verordnung durch erfahrene Ärzte die Behandlung mit Cannabinoiden „von den Krankenkassen nicht durchgewunken wird, sondern sie sich mit all der ihnen zur Verfügung stehenden Macht dagegen auflehnen.“ Den Siegeszug von Cannabis – da sind sich die meisten Experten sicher – wird man auf diese Weise jedoch nicht verhindern können.