Mit der neuen Regierung ist die Debatte um die Einführung einer Impfpflicht neu entfacht. Zahlreiche Expert:innen sprechen sich anlässlich der hohen Hospitalisierungsrate für einen verpflichtenden Corona-Schutz aus, darunter auch Norbert W. Paul aus Mainz. Er ist Professor und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Vorsitzender des Ethik-Beirats für die Corona-Schutzimpfungen des Landes Rheinland-Pfalz. Im Interview mit Welt der Wunder erklärt Paul, weshalb eine Impfpflicht angebracht ist, wie sie aussehen könnte und wie sie den Verlauf der Pandemie verändern würde.
Wie sinnvoll ist eine Impfpflicht aus epidemiologischer Sicht?
Norbert Paul: Eine Impfpflicht ist nur dann hilfreich, wenn sie weite Bevölkerungsteile erfasst beziehungsweise alle erfasst. Zudem leben wir in unserem Land nicht auf einer Insel. Es wäre klug, wenn wir über Impfpflichten im europäischen Raum diskutieren, aber das ist möglicherweise angesichts der nationalen Differenzen bei dem Thema derzeit noch ein zu ehrgeiziger Ansatz. Es gibt ja auch in dem Sinne keine europäisches Gesundheitsministerium oder eine vergleichbare Institution, die wirksam werden könnte.
Aus epidemiologischer Sicht ist es momentan so, dass wir relativ schnelle Mutationsraten beim Virus sehen. Gerade ist die Omikron-Variante dazugekommen, die uns doch einige Sorgen bereitet. Je mehr Personen ungeimpft sind, also keine adäquate Immunantwort auf das Virus haben, desto breiter wird der Raum für solche Mutationen, die uns dann immer wieder vor neue Herausforderungen stellen. Und vielleicht stellen sie uns sogar vor das Erfordernis, den Impfstoff anzupassen.
Damit wir aus dieser Endlosschleife herauskommen, ist es epidemiologisch jetzt absolut entscheidend, dass möglichst viele Menschen geimpft sind. Und wenn es auf freiwilliger Basis nicht funktioniert, ist das ein erstes Argument für die allgemeine Impfpflicht.
Hat der Staat das Recht, zur Impfung zu verpflichten?
Norbert Paul: Wir haben momentan keine allgemeine Impfpflicht und somit auch Schwierigkeiten, diese politische Entscheidung zu diskutieren, weil zwei ganz wesentliche Argumente dagegensprechen. Das eine ist die körperliche Unversehrtheit, also dass Menschen das Recht haben, darüber zu entscheiden, ob sie eine Nadel durch ihre Haut gestochen haben wollen oder nicht. Das andere ist die Betonung von individuellen Freiheitsrechten. Diese an sich sehr starken Argumente stehen jedoch angesichts der pandemischen Situation nicht mehr gegen eine allgemeine Impfpflicht.
Ich erdulde eine geringe Eingriffstiefe durch die Impfung in meinen Arm. Wir haben einen Impfstoff, der aufgrund der Studienlage und der Masse an Impfungen, die inzwischen erfolgt sind, so gut erforscht ist wie selten ein Impfstoff. Wenn wir an andere Impfstoffe denken, ist er einer der hochwirksamen. Als Beispiel: Influenza-Impfstoffe, die wir von früher kennen, haben oft eine Wirksamkeit um 20 bis 25 Prozent. Da sind wir jetzt mit den Corona-Impfstoffen deutlich besser bedient. Sie sind sicher, sie sind wirksam und der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist minimal.
Diesem direkten Eingriff steht ein indirekter Eingriff gegenüber. Menschen warten auf Operationen. Wir vom Uni-Klinikum Mainz sagen derzeit jeden Tag OPs ab. Menschen kommen zu spät zu Vorsorgeuntersuchungen. Arztpraxen sind im Wesentlichen damit beschäftigt, Impfungen zu terminieren oder durchzuführen. Hier könnten wir entlasten, wenn wir sie konzentriert an Impf-Wochenenden verpflichtend machen würden. Aktuell zahlen sehr viele Menschen einen sehr hohen Preis bis hin mit ihrem Leben für eine zu geringe Impfquote, weshalb wir eine allgemeine Impfpflicht durchsetzen sollten. Die erheblichen Folgen für die Menschen, die darunter leiden, dass viele nicht geimpft sind, sind ethisch nicht mehr zu rechtfertigen.
Das zweite Argument ist das Freiheitsrecht. Im Moment sind wir in einer Lage, in der Minderheitenschutz die Freiheit der Mehrheit einschränkt. Jeder kann ja über sein eigenes Unglück entscheiden, aber eben nicht über das Unglück anderer. Bei der Diskussion um ein Rauchverbot in Restaurants und Kneipen waren das genau die gleichen Argumente: „Jeder kann ja rauchen wie er will und sich schädigen, aber bitte nicht so, dass Dritte beeinträchtigt werden“. Das ist auch in der Pandemie der Fall. Dritte werden erheblich in ihrer freien Entfaltung beeinträchtigt, dadurch, dass wir das Freiheitsrecht einer Minderheit höher bewerten als das Freiheitsrecht der Mehrheit. Das ist ethisch schwierig zu begründen und deswegen ist die allgemeine Impfpflicht vor diesen beiden Hintergründen durchaus ethisch zu rechtfertigen.
Viele Menschen haben bereits ihre Booster-Impfung erhalten. Sollte diese auch verpflichtend werden?
Norbert Paul: Wenn wir in unserem Land eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona erlassen, geschieht dies ja mit dem Ziel, die Pandemie zu beherrschen. Auch mit Blick auf die Booster-Impfungen macht eine allgemeine Impfpflicht wirklich Sinn. Stellen Sie sich vor, wir müssten Impfstoffe anpassen – was ja schon jetzt bei Omikron zur Debatte steht. Wollen wir dann allen Ernstes mit jeder neuen Variante eine neue Diskussion führen, ob man sich gegen Corona impfen lassen soll oder nicht? Nein. Wir wollen eine allgemeine und fortbestehende Impfpflicht in einem zeitlichen Abstand, der erstens dafür sorgt, dass die Menschen optimal geschützt sind, und zweitens dafür, dass die Virus-Mutation im Zaum gehalten wird. Außerdem soll der Abstand dafür sorgen, dass wir bei neuen Mutationen – und die treten ganz selbstverständlich auf – durch Booster geschützt sind. Deshalb ist die Antwort einfach und klar: Ja, die Booster-Impfungen müssen, bis die Pandemie keine Pandemie mehr ist, bis das Virus uns begleitet, wie es Influenza tut, im Rahmen der allgemeinen und fortgesetzten Impfpflicht verpflichtend sein.
Gehen wir mal davon aus, die Impfpflicht kommt. Wie würde sie aussehen?
Norbert Paul: Wir können keine Impfpflicht einführen, wenn nicht jeder ein zeitnahes Impfangebot bekommt. Wir können die Leute nicht verpflichten, drei Stunden im Nieselregen vor dem Impfbus zu warten, um ihrer Pflicht Genüge zu tun. Das wäre kein angemessener Umgang mit Menschen. Die Impfzentren sind zu ertüchtigen, möglichst viele Menschen in möglichst kurzer Zeit zu impfen, denn die niedergelassenen Praxen sollen möglichst bald wieder entlastet werden. Die Ausweitung des Impf-Angebots, die wir derzeit diskutieren, dass zum Beispiel auch in Apotheken geimpft werden soll, spielt auch eine Rolle.
Das Zweite ist: Wir brauchen natürlich eine gescheite Impf-Dokumentation. Deutschland hat kein zentrales Impf-Register. Das ist wie vieles im Bereich IT ein bisschen beschämend. Wir sollten schon in der Lage sein, nachzuverfolgen, wer geimpft ist und uns nicht alle paar Monate eine neue App herunterladen, die am Anfang nicht funktioniert oder uns QR-Codes bei Apotheken abholen anstatt direkt bei impfenden Ärzt:innen. Das muss anders geregelt sein. Vorher sehe ich nicht, dass eine allgemeine Impfpflicht akzeptabel ist.
Wer seinen Impftermin nicht wahrnimmt, sollte dann auch natürlich nicht mit Zwang zur Impfung gebracht werden. In solchen Fällen ist es sinnvoll, Bußgelder zu verhängen – über die Höhe kann man sich sicherlich streiten. Aber das wird kein billiges Vergnügen wie Falschparken, denke ich. In Österreich sind die Beträge bekannt, da sind es 360 bis 600 Euro bis maximal 3.600 Euro, wenn man mehrfach nicht zur Impfung erscheint. Das ist schon eine erhebliche Summe.
Ist eine zu mehr als 90 Prozent geimpfte Bevölkerung der Garant für den Weg aus der Pandemie?
Norbert Paul: Es ist schwierig in dieser Situation zu sagen, wir sind jetzt zu 90 Prozent gegen die Delta-Variante geimpft und damit ist die Pandemie vorbei. Corona wird uns eines Tages als Endemie, also als immer in der Bevölkerung vorhandene Infektionsquelle, begleiten. Wichtig ist, dass wir die Pandemie brechen, dass wir dieses globale immer wieder Aufflackern neuer viraler Bedrohungen in den Griff kriegen.
Eine Impfpflicht in Deutschland einzuführen, reicht jedoch nicht. Ich fände es richtig, als relativ reiches Land unserer globalen Verantwortung mehr gerecht zu werden. Wir sollten uns darum bemühen, dass in anderen Ländern, etwa dem globalen Süden, genug Impfstoff zur Verfügung steht. Wenn schon keine Passagierflugzeuge von Südafrika aus fliegen dürfen, dann könnten ja im Gegenzug Transportmaschinen Impfstoffe und Tests liefern. Da muss die internationale Solidarität deutlich an Fahrt aufnehmen, bevor wir ernsthaft glauben können, dass wir die Pandemie besiegt haben.
Inwiefern spielen auch neue Varianten, wie derzeit Omikron, eine Rolle dabei? Ob und wie viele Varianten sind zu erwarten?
Norbert Paul: Das Coronavirus ist eine sehr böse Variante eines Erkältungsvirus. Auch dieser übliche saisonale Schnupfen, den wir früher im Winter hatten, ist auf Coronaviren zurückzuführen. Sie mutieren immer relativ schnell. Auch die harmlose Erkältungswelle eines Jahres ist in der Regel im darauffolgenden Jahr schon mit anderen Mutationen unterwegs. Das heißt: Mutationen sind zu erwarten und sie sind auch nichts Dramatisches. Das entspricht dem Lebenszyklus von Viren.
Schwierig wird es dann, wenn Viren an einer teilweise geimpften und immunisieren Bevölkerung lernen, diesem Schutz auszuweichen. Das sind die sogenannten Escape-Varianten, die den Impfschutz oder die Immunität unterlaufen – auch bei Menschen, die genesen sind. Diesen Varianten geben wir zu viel Raum, wenn wir sehr, sehr unvollständig geimpfte Populationen haben. Das Thema wird uns daher so lange beschäftigen, bis die Menschen alle immunisiert sind – entweder durch eine Impfung oder durch eine überstandene Erkrankung.
Möglicherweise wird es auch sogar dazu kommen, dass ungeimpfte Menschen mehr als einmal Corona überstehen müssen, um dann vollständig und gut geschützt zu sein, so dass das mal eine relativ banale Erkrankung wird. Eine Hoffnung sind auch Medikamente, die derzeit entwickelt werden. Sie sollen der Erkrankung selbst den Schrecken nehmen und verhindern, dass Menschen die oft fürchterlichen Krankheitsfolgen nicht tragen müssen oder gar versterben.