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Der Super Bowl steht kurz bevor: Das Finale der National Football League (NFL) ist eines der größten Einzelsportereignisse weltweit. In der Halbzeitpause bieten weltberühmte Musikstars den Zuschauerinnen und Zuschauern vor Ort und vor dem TV ein eindrucksvolles Programm, das nicht nur den Footballfans Freude bereitet.
Der Super Bowl der American Football Profiliga ist ein Spektakel, das Jahr für Jahr in jeglicher Hinsicht Rekorde bricht. Doch die Sportart mit dem Millionengeschäft-Finale hat gerade für die Spieler auch eine dunkle Seite: Das Verletzungsrisiko ist bei dieser Kontaktsportart extrem hoch.
Verletzungen beim American Football in Zahlen und Fakten
- Im Schnitt ziehen sich Spieler 65 Verletzungen bei 1000 Einsätzen zu (Stand 2012)
- Neben Knie-, Knöchel- und Leistenverletzungen bilden Schulter- und Fußprobleme sowie Gehirnerschütterungen die Top 6 der häufigsten Blessuren
- Nur 35 Prozent der gemeldeten Gehirnerschütterungen führen zum Ausfall der Spieler
- Regelmäßig kommt es zu Verletzungen mit Todesfolge, beispielsweise durch Genickbrüche
Durchschnittlich dauert das Spiel circa drei Stunden; die effektive Spielzeit, bei der der Ball tatsächlich bewegt wird, beträgt aber nur elf Minuten. Trotz dieser kurzen Zeit birgt die körperbetonte Sportart viele Risiken. Verletzungen haben nicht nur einen beträchtlichen Einfluss auf den Verlauf einer aktuellen Saison. Gerade die Langzeitfolgen sind nicht zu unterschätzen.
Gehirnerschütterung: Verletzung mit schlimmen Spätfolgen
Keine andere Sportart verzeichnet mehr Gehirnverletzungen als US-Football. Jahrzehntelang kehrte die NFL das Problem unter den Teppich und redete der skeptischen Öffentlichkeit ein, Schläge auf den Kopf seien gesundheitlich unbedenklich.
Eine 2007 veröffentlichte Studie, die am Center for the Study of Retired Athletes an der University of North Carolina an 2.552 ehemaligen NFL-Spielern durchgeführt wurde, ergab jedoch einen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen der Anzahl der Gehirnerschütterungen und der Rate diagnostizierter Depressionen. Von 595 ehemaligen NFL-Spielern, die drei oder mehr Gehirnerschütterungen während ihrer aktiven Laufbahn hatten litten 20,2 Prozent an der psychischen Krankheit. Ferner wurde bei den Untersuchten im Gegensatz zu anderen Männern gleichen Alters ein 37 Prozent höheres Risiko festgestellt, an Alzheimer zu erkranken.
Der nigerianische Neuropathologe Bennet Omalu verfasste bereits 2005 einen wissenschaftlichen Bericht, in dem er diesem Phänomen einen Namen gab: chronisch-traumatische Enzephalopathie, kurz CTE. Im Jahr 1928 erwähnte der Pathologe Harrison Martland die Krankheit erstmals im Zusammenhang mit Preiskämpfern.
Die häufigsten Symptome von CTE
Eine von der NY Times veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass Spieler nach einer Gehirnerschütterung direkt vom Spielfeld genommen werden sollten. Sportler, die unmittelbar nach einem Schädel-Hirn-Trauma weiterspielten, benötigten doppelt so viel Zeit für die Rückbildung der Symptome wie sofort pausierende Spieler. Leiden die Athleten unter den Spätfolgen einer Hirnverletzung treten folgende Krankheitsmerkmale bei CTE am häufigsten auf:
- Gedächtnisverlust
- Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen
- Parkinsonismus
- Sprechstörungen
- Verlangsamter Gang
- Depressionen
- Suizidrisiko
- Aggressivität
- Demenz
CTE kann zu Lebzeiten des Betroffenen auch während des Auftretens von Symptomen bislang noch nicht eindeutig klinisch diagnostiziert werden. Erst durch eine Aufarbeitung des Gehirngewebes nach dem Tod ist eine sichere Diagnose möglich. Mentale Gesundheit ist in unserer Gesellschaft nach wie vor ein stigmatisiertes Tabuthema.
Deshalb fällt es Betroffenen oft schwer, die Symptome von CTE als solche zu erkennen und dementsprechend Hilfe einzufordern. Das Krankheitsbild kann nicht an greifbaren Punkten festgemacht werden, wie es beispielsweise bei einer Fraktur möglich wäre. Selbst wenn sich die Anzeichen häufen und als CTE erkannt werden, gibt es keine Heilungsmöglichkeit.
Es können lediglich unterstützende Maßnahmen eingeleitet werden, die auch bei anderen Demenz- oder Depressionsformen helfen. Die Krankheit betrifft nicht nur Profisportler – auch Soldatinnen und Soldaten, Kriegsflüchtlinge mit Explosionstraumata, sowie Opfer häuslicher Gewalt können betroffen sein.
Kriminalfälle und Suizide
Junior Seau
Der Profispieler Junior Seau wurde im Mai 2012 tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ermittlungen ergaben, dass Seau sich durch eine Überdosis verschreibungspflichtiger Medikamente selbst das Leben nahm. Posthume Untersuchungen des Profisportlers, der unter anderem für die Miami Dolphins und die New England Patriots spielte, ergaben ein eindeutiges Krankheitsbild: Infolge zahlreicher Hirnverletzungen litt er unter CTE.
Aaron Hernandez
Aaron Hernandez spielte drei Jahre lang für die New England Patriots auf der Position des Tight Ends. 2013 wurde der Profiathlet wegen Mordverdachts festgenommen und im April 2015 zu lebenslanger Haft ohne vorzeitige Entlassungsmöglichkeit verurteilt. 2017 nahm sich der damals 27-jährige das Leben. Einige Monate später wurde mitgeteilt, dass Hernandez an CTE litt und sein Gehirn bereits Merkmale der Stufe drei aufwies – eine für sein Alter außergewöhnlich weit fortgeschrittene Stufe.
Anthony McClanahan
Anthony McClanahan war Teil der kanadischen Football Liga und machte 2017 Schlagzeilen, als er für den Mord an seiner Frau Keri angeklagt wurde. Die beiden hatten eine körperliche Auseinandersetzung, bei der McClanahan seine Frau mehrfach mit dem Messer verletzte. Da der Ex-Profisportler noch lebt, konnte die Diagnose CTE bisher nicht final bestätigt werden.
Phillip Adams
Der 1988 geborene Phillip Adams, der unter anderem für die New England Patriots, Seattle Seahawks und Atlanta Falcons tätig war, tötete im April 2021 sechs Menschen und richtete sich am darauffolgenden Tag selbst. Adams war nicht vorbestraft und sein Vater spekulierte in Interviews, der Sport wäre der Grund für sein Durchdrehen. Eine spätere Autopsie bestätigte den Verdacht: Adams Gehirn litt unter einem besonders schweren Fall von CTE.
Selbstverständlich lassen sich Straftaten oder Suizide nicht mit dieser Krankheit rechtfertigen. Es könnte lediglich eine Antwort auf die Frage sein, wie es aus körperlicher Sicht überhaupt so weit kommen konnte.
Konsequenz: Regeländerung, Forschungsförderung und Entschädigungszahlungen
Regeländerung
Um die Zahl der Kopfverletzungen zu senken, führte die NFL mit einem 31:1 Votum der Club-Eigentümer in der Saison 2013/14 eine Regeländerung ein, um die Zahl der Kopfverletzungen zu senken. Seitdem ist es sowohl Offensiv- als auch Defensivspielern verboten, ihre Köpfe zu senken und mit den Helmen einen Gegenspieler zu treffen.
Diese sogenannten „Speerangriffe“ resultieren in einer 15-Yards-Strafe, was bedeutet, dass die Mannschaft des Übeltäters den nächsten Spielzug von weiter hinten starten muss. Zum Schutz der Spieler gibt es außerdem das sogenannte Concussion Protocol: Extra zu diesem Zweck eingesetzte Spielbeobachter schreiten bei Verdacht auf Kopfverletzungen ein. Der Profi muss pausieren, direkt einen Test machen und darf erst nach professioneller Untersuchung zurück aufs Feld. Außerdem hat die Liga die Anzahl der Vollkontakt-Trainingseinheiten beschränkt.
Forschungsförderung
Im Dezember 2015 stellten die National Institutes of Health unter anderem der University of Arizona, dem Banner Alzheimer’s Institute, der Boston University, dem Brigham and Women’s Hospital und der Cleveland Clinic, insgesamt 16 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Das Budget soll vor allem dazu dienen, CTE bereits vor dem Tod diagnostizieren zu können. Die NFL lieferte zunächst keinen finanziellen Beitrag.
Im September 2016 stellte die NFL als Reaktion auf die immer lauter werdende Kritik am Umgang mit Kopfverletzungen ein 100 Millionen US-Dollar schweres Paket vor. 60 Millionen US-Dollar sollen in die technologische Entwicklung fließen, etwa neue Helme, und 40 Millionen US-Dollar in die Förderung medizinischer Forschung zum Thema Kopfverletzungen. Das Geld sollte unter anderem dazu verwendet werden, Langzeiteffekte von Gehirnerschütterungen zu untersuchen und Maßnahmen zu finden, den Gesundheitszustand von Langzeitspielern zu verbessern.
Entschädigungszahlungen
Im August 2013 erklärte sich die NFL bereit, 765 Millionen US-Dollar über 17 Jahre hinweg an 18.000 ehemalige Spieler als Entschädigung für Hirnverletzungen durch Gehirnerschütterungen auszuschütten. Für die Laufzeit des Vertrags ergaben sich pro Jahr somit weniger als 1,5 Millionen US-Dollar für jeden der 32 NFL-Clubs. Ein Spitzenspieler verdiente im Jahr 2013 das zehnfache pro Saison. Im Januar 2014 wies die Richterin Anita B. Brody am United States District Court for the Eastern District of Pennsylvania die 765 Millionen US-Dollar-Einigung zurück und verlangte Nachbesserungen.
Insgesamt betrug die Einigungssumme final eine Milliarde US-Dollar. Die NFL geht davon aus, dass ungefähr 6000 ehemalige Spieler Zahlungen erhalten werden, jeder davon durchschnittlich 190.000 US-Dollar. Die Einigung wurde im April 2016 unter Leitung der Richterin Anita Brody einstimmig als fair eingestuft, was bedeutet, dass pro ehemaligem Spieler, der an Alzheimer, amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinson, schwerer Demenz, oder vor 2015 an CTE erkrankt ist, bis zu fünf Millionen US-Dollar ausgezahlt werden können.
Mehr als 8000 NFL-Spieler waren zu diesem Zeitpunkt bereits für Entschädigungszahlungen registriert, obwohl das Verfahren noch gar nicht gestartet war. Den Profispielern, die zukünftig erkranken, hilft der Deal mit der NFL nicht: Sie spielen nun auf eigenes Risiko.