Den „typischen“ Geiselnehmer gibt es nicht. Psychologen unterscheiden drei Typen: emotionale, geldgierige und terroristische Geiselnehmer. In 52 Prozent aller Fälle handelt es sich um paranoide, enttäuschte oder rachsüchtige Täter, die meist spontan handeln. Geldgierige Täter – wie etwa Bankräuber – und terroristische Täter – beispielsweise Entführer – planen ihre Tat langfristiger. Im Umgang mit Vertretern aller drei Typen gilt: Ihre Kernforderungen werden von den Verhandlungsführern nicht erfüllt.
Pro Jahr kommt es zu 150 räuberischen Erpressungen auf Bankinstitute in Deutschland. Manche davon enden in einer Geiselnahme. Für die Opfer ist das eine extreme und lebensbedrohliche Situation. Gerade jetzt kommt es auf das richtige Verhalten an.
Geiseln dürfen niemals weinen. Sollte man als Geisel genommen werden, raten Psychologen zu folgenden Verhaltens-Codes: Nicht weinen – das erzeugt beim gestressten Geiselnehmer nur noch mehr Panik. Neutral bleiben: Alle Fragen des Geiselnehmers beantworten – nicht diskutieren, ihn nicht belehren. Sich nicht zurückziehen: Wer sich in Apathie flüchtet, wird vom Geiselnehmer nicht mehr als Mensch mit Gefühlen wahrgenommen, die Hemmschwelle zum Töten sinkt. Immer bedanken: Jegliche persönliche Bindung zum Geiselnehmer (bedanken, Namen sagen) schützt die Geisel.
Wann ist eine Stürmung erfolgreich? In 95 Prozent aller Geiselnahmen gelingt es dem Verhandlungsführer, den oder die Täter dazu zu bringen, dass sie aufgeben, ohne dass das Spezialkommando eingreifen muss. Kommt es doch zur Stürmung, enden zwölf Prozent aller Geiselnahmen mit Verletzten oder Toten. „Für die Option Stürmung gibt es nur drei akzeptable Szenarien: Entweder wird der Geiselnehmer abgeführt; oder er wird getötet; oder er bringt sich selbst um. Sterben Geiseln, haben wir versagt“, erklärt die erfahrene amerikanische Verhandlungsführerin Kip Rustenburg.
Wie erledigt man einen unsichtbaren Geiselnehmer? Die Sicherheitskräfte der Polizei sind am Tatort, sie positionieren sich vor dem Gebäude. Jetzt gilt es, die Motivation des Täters herauszufinden. Ist er bewaffnet? Je mehr Informationen, desto besser die Verhandlungsstrategie.
Wie lange eine Geiselnahme dauert, kann niemand vorhersagen. Es hängt vom Täterprofil ab. Bei einer nicht geplanten Geiselnahme ist es allerdings hilfreich, Zeit zu schinden, da der Täter in der Regel eine immer größere Emotionale Nähe zu den Geiseln aufbaut.
In einer solchen Phase dürfen die Geiseln den Täter nie direkt ansprechen. Es gilt: nur das machen, was von dem Verbrecher verlangt wird.
Am sichersten ist es, ruhig zu bleiben, nicht zu reden und keine hektischen Bewegungen zu machen. Die Geiseln sollten unbedingt zuhören, was der Täter sagt, um ihn nicht zu verärgern und bei Fragen immer die Höflichkeitsform wahren. Er muss das Gefühl haben, dass er ernst genommen wird.
Das Sondereinsatzkommando wartet auf den Befehl zum Stürmen der Bank. Irgendwann ist der Punkt gekommen, an dem die Nerven sowohl des Geiselnehmers als auch der Geiseln blank liegen. Alle sind erschöpft und gereizt. Jetzt sind die Verhandlungen seitens des Täters besonders von Emotionen gesteuert. Der Vermittler wartet ab.
Ein besonders kritischer Moment für die Geiseln: Der Täter stellt ein Ultimatum. Wenn der Verhandler jetzt einen Fehler macht, eskaliert die Situation. Er muss die Forderungen des Täters abschwächen, damit dieser verhandlungsbereit bleibt. Die Beamten bringen sich in Stellung und warten auf das Kommando zum Stürmen.
Wie viel Zeit gewinnen die Spezialkräfte? Bis heute hat der Geiselnehmer einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Spezialkräften der Einsatzkommandos: Er weiß, von wo der Feind kommen wird – und kann das Ziel schon anvisieren. Dagegen müssen sich selbst geübte Beamte nach dem Eintreten der Tür zunächst einige Zehntelsekunden orientieren.
Die Elitekräfte haben solche Situationen schon Hunderte Male trainiert, während der Geiselnehmer in der Regel unvorbereitet und nicht ausgebildet in diese Ausnahmesituation geraten ist. Schließlich kann er überwältigt und verhaftet werden.
Am Ende geht alles ganz schnell: Die Beamten des Sondereinsatzkommandos befreien die Geiseln und bringen sie in Sicherheit. Der größte Fehler bei der Erstürmung des Gebäudes ist, der Polizei entgegenzulaufen. Am besten schützt man sich, indem man versucht, Ruhe zu bewahren, sich nicht von der Gruppe absondert, allen Anweisungen folgt und Gemeinsamkeiten mit dem Täter findet. Damit sind die Überlebenschancen am höchsten.
Der erste Hoffnungsschimmer zeichnet sich nach 144 Stunden ab – mit exakt vier Sätzen: „Sie werden alle sterben! Mir ist der Tod scheißegal, aber diese Frau hier ist erst 21 Jahre alt. Sie hat Tränen in den Augen. Und ich schwöre, ich werde ihr das Hirn rauspusten, wenn ihr nicht tut, was wir sagen!“
Der Mann, der diese Worte in den Telefonhörer schreit, heißt Ricky Wassenaar. Zusammen mit seinem Zellenkumpan Steven Coy hat er sich im Überwachungsturm des Arizona-State-Gefängnisses verschanzt. Bei ihnen sind zwei Geiseln, der Wärter Jason Auch und seine Kollegin Lois Fraley.
„Ich verstehe das“, sagt die Verhandlungsführerin Kip Rustenburg – und lächelt. Sie ist überzeugt: Diese vier Sätze sind eine gute Nachricht. Die Täter werden aufgeben. „Wassenaar ist emotional zu sehr an die Geisel Lois Fraley gebunden. Er teilt uns ihr Alter mit, schildert ihren Zustand“, erklärt Hostage Negotiator Rustenburg. „Eigentlich will er damit Druck aufbauen, unbewusst aber hat er angefangen, diese Frau als Menschen mit Gefühlen zu betrachten, den er nicht mehr einfach ausschalten kann.“ Rustenburgs Optimismus speist sich aus ihrer Erfahrung. Sie weiß: Wenn sie sich an die Gesetzmäßigkeiten der Geiselnahme hält, kann nichts mehr passieren: Aber wie lauten diese Regeln? Was genau muss man bei einer Verhandlung beachten?
Emotionale Überreaktion
„Solange ein Geiselnehmer redet, wird er niemanden umbringen“, erklärt Negotiator George Kohlrieser, der sich viermal gegen eine Geisel austauschen ließ – und damit selbst zu einer wurde. „Active listening“, aktives Zuhören, nennen Verhandlungsspezialisten die Technik, die auch Rustenburg anwendet. „Gerade Geiselnehmer, die aufgrund einer emotionalen Überreaktion in die Situation geraten sind, haben das Bedürfnis, zu reden.
Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit in dem ganzen Chaos“, sagt Kohlrieser. Gleichzeitig verschafft es den Beamten Zeit – eine der wichtigsten Voraussetzungen, damit weder Geiselnehmer noch Spezialkommando überreagieren. Tatsächlich belegen Studien: Ein Mensch, dem zugehört wird, lässt schneller andere Standpunkte zu, akzeptiert Gegenvorschläge. Die Zeit spielt vor allem in den ersten 30 Minuten eine entscheidende Rolle – verläuft diese Phase ohne Exekutionen, wie im Fall von Wassenaar und Coy, steigt die Chance, die Situation friedlich zu lösen, mit jeder weiteren Stunde um einige Prozent.
Verhandlungsgeschick rettet Menschenleben
Zudem kann das Team um den Verhandlungsführer entscheidende Informationen über den Geiselnehmer sammeln und auswerten. So wird Rustenburg, wie jeder Negotiator, von einem sogenannten Coach unterstützt. Er protokolliert alle Gespräche, notiert Details und Auffälligkeiten.
Parallel dazu beschafft ein sogenannter Floater Hintergrundinformationen, spricht mit Angehörigen, Freunden, Ärzten des Geiselnehmers und erstellt entsprechende Psycho-Profile, die er dem Negotiator zukommen lässt. Mithilfe dieser Informationen kann der Verhandlungsführer, der als Einziger mit dem Geiselnehmer spricht, noch besser auf ihn eingehen. Die mit Abstand wichtigste Negotiator-Regel lautet jedoch: Der Geiselnehmer darf nicht entkommen.
„Contain and isolate“ ist das oberste Gebot – eingrenzen und isolieren. Das gilt um jeden Preis, selbst dann, wenn es eine oder mehrere Geiseln das Leben kostet. Denn: Ein entkommener Geiselnehmer kann viele weitere Leben gefährden. Kip Rustenburg hat sich an all diese Regeln gehalten. Nach tagelangen Gesprächen geben die Geiselnehmer auf – ohne dass auch nur ein Schuss gefallen ist.
„Am Ende haben sie die geforderte Pizza bekommen, ein paar Kopfschmerztabletten und das Versprechen, in Gefängnisse verlegt zu werden, die näher an ihren Heimatorten liegen“, sagt Rustenburg. „Dafür haben sie ihre Waffen herausgerückt, die Geiseln und letztlich auch sich selbst. Ein guter Deal.“