Ein riesiger, hummerähnlicher Krake hält einen wehrlos zappelnden Seemann in seinen Scheren: Was nach einer Szene aus dem Hollywood-Film „Fluch der Karibik“ klingt, hat seinen Ursprung weit vor jeglichem Bewegtbild. Die Kartenzeichner zwischen dem zehnten und frühen 17. Jahrhundert hatten wohl eine blühende Fantasie, was die Bewohner der Weltmeere anging. Es bedarf beim Betrachten alter Karten keines Kennerblickes, um festzustellen: Nicht nur in Lage und Form der Länder unterscheiden sich antike und mittelalterliche Landkarten von den heutigen – sie wurden damals auch reich geschmückt mit Bildern von fantastischen, skurrilen und bedrohlichen Wesen.
Abenteuerliche Erzählungen der Seefahrer
Dabei reichen die Ungeheuer von bizarr wirkenden Walen bis hin zu den unterschiedlichsten Mischwesen, da man in der Antike annahm, dass alle Landtiere eine Entsprechung im Wasser hätten. Als Inspiration für die monsterähnlichen Gestalten dienten den Zeichnern zeitgenössische wissenschaftliche Literatur, Erlebnisberichte von Seefahrern und auch mal ihre eigene Fantasie.
Doch warum taten die Kartographen das? Darauf gibt es gleich mehrere Antworten, zum Beispiel sollten die Abbildungen die Seeleute tatsächlich vor Meerungeheuern warnen, die laut den abenteuerlichen Erzählungen in den Weltmeeren ihr Unheil trieben. Die Gemälde dienten aber auch rein künstlerischen Zwecken, waren pure Dekoration oder wiesen auf die malerischen Fertigkeiten des Kartographen hin. Denn je prunkvoller dieser die Karten gestaltete, desto teurer konnte er sie auch verkaufen. Da blieb die grafische und naturkundliche Genauigkeit schon mal auf der Strecke.
Seeungeheuer vor Island
Auf dieser Karte von 1598 sind die Gewässer rund um Island zu sehen, die zahlreich von Seeungeheuern bevölkert sind. Jede Kreatur ist mit einem Buchstaben versehen, mit dessen Hilfe der Betrachter auf der Rückseite der Karte die passende Beschreibung zum Bild finden kann.
Gigantischer Fisch mit Wildschweinkopf und Bärenpranken
Dieser Ausschnitt der Islandkarte zeigt ein typisches Beispiel für ein Seeungeheuer mit Ähnlichkeit zu bekannten Landtieren: Der gigantische Fisch hat den Kopf eines Wildschweins und die Pranken eines Bären.
Fantasievolle Seeungeheuer
Auch noch im 17. Jahrhundert erschienen fantasievolle Seeungeheuer auf den Karten. In seinem Buch Nova typis transacta naviagtio (1621) schmückt Caspar Plautius seine Erzählungen mit Legenden und Wundergeschichten, wie eine Seereise über den Atlantik, bei der ein Schiff auf dem Rücken eines Wals gelandet sein soll.
Wassereinhörner
Wenn man der Abbildung auf der Karte von 1593 Glauben schenkt, gab es sogar Wassereinhörner…
Fliegende Schildkröten
Die fliegende Schildkröte erscheint so paradox, dass sie quasi ein Symbol für das Unmögliche ist. Sie wird in keinem Text erwähnt, der erschien, bevor die Karte veröffentlicht wurde. Alleine deshalb kann sie nur der Fantasie des Zeichners entsprungen sein. Dennoch wurde sie von Kartographen einige Male nachgeahmt.
Hummerähnliche Kraken
Der hummerähnliche Krake hält einen hilflosen Seemann in seiner Schere – eine eindeutige Warnung, sich von diesem Teil des Meeres fern zu halten.
Monster mit Elefantenrüssel und Drachenschwanz
Dieses Ungeheuer vereint gleich drei Tiere in einem: der Schwanz eines Drachen, das Gesicht eines Vogels und fünf Auswüchse auf dem Kopf, die stark an Elefantenrüssel erinnern und aus denen das Monster Dampf bläst.
Halb Frau, halb Fisch
Was wir heute als Meerjungfrau bezeichnen würden, nannte man in der griechischen Mythologie eine Sirene. Die Mischwesen – halb Frau, halb Fisch – hatten jedoch einen ganz anderen Ruf: Der Sage nach lockten sie mit ihrem Gesang Seemänner an, um sie anschließend zu verspeisen.
Fisch in Gestalt einer Gans
Der Kartograph André Thevet beschreibt dieses ungewöhnliche Wesen als monströsen Fisch, der einer Gans ähnlich sieht, vier Bauchflossen, aber keine Schuppen hat und in der Karibik um Hispaniola herum lebt.
Abschreckung durch Walrösser
Zur Abschreckung brachten die Zeichner auch Walrösser in ihre Karten ein – wenn auch nicht zu 100 Prozent anatomisch korrekt - denn diese galten damals als schreckliche Seeungeheuer.
Fischkentauren
Die Kreatur mit dem Oberkörper eines Mannes, den Beinen eines Pferdes und dem Hinterleib eines Fisches nannte man in der griechischen Mythologie einen Ichthyokentauren oder auch Fischkentauren.
Halb Schwein, halb Hund
Eine ungewöhnliche Gestalt, die aussieht wie eine Kreuzung aus Schwein und Hund. Nur die Schwimmhäute an den Füßen deuten darauf hin, dass das Ungeheuer im Meer leben soll.
Buch-Tipp: Seeungeheuer und Monsterfische
Weitere fantastische Wesen, die sich auf altertümlichen Karten tummeln, sowie deren Hintergründe sind in dem Buch „Seeungeheuer und Monsterfische“ von Autor Chet van Duzer aufgeführt. Verlag Philipp von Zabern, 35,95 Euro.
Spiegel vergangener Zeiten
Zusätzlich symbolisierten sie die Sagen- und Mythenwelt des Landes, neben dem sie abgebildet waren. So ist beispielsweise Island – auch heute noch bekannt für seine Mythen und Sagen – von den aberwitzigsten Wesen, wie einem Wolf mit Flossen, umgeben (siehe Bildergalerie). Manchmal wiesen die Abbilder der Seeungeheuer auch ganz einfach auf die Belebtheit des Meeres hin. Doch die angsteinflößenden Kreaturen hatten auch ihren ökonomischen Zweck – sie sollten fremde Seefahrer von bestimmten Routen fernhalten, wie zum Beispiel den ertragreichen skandinavischen Fischfanggebieten.
Der Kartenhistoriker Chet van Duzer hat in seinem Buch „Seeungeheuer und Monsterfische“ nicht nur etliche Bilder von fantasievoll bemalten, europäischen Karten gesammelt – er interpretiert auch deren Herkunft und Bedeutung. Denn über die Bilder lassen sich jede Menge Rückschlüsse auf die Weltvorstellung der damaligen Zeit ziehen. Von der Antike bis zur Renaissance nimmt er dabei auch Bezug auf damalige Skeptiker sowie die Rolle der Kirche, die teilweise selbst in ihren heiligen Hallen fantastische Bilder von Wasser-Einhörnern und dergleichen beherbergte.