Amerikanische Country-Musik dringt durch das Kommunikationssystem von Matt Kowalski und bringt ein wenig irdische Normalität in die unglaubliche Szenerie, die sich vor ihm und seiner Kollegin Dr. Ryan Stone abspielt. Beide sind Teil der Weltraummission STS-157 und führen gerade in einem Außeneinsatz Reparaturarbeiten am Hubble-Weltraumteleskop durch. Ihr Blick wandert unweigerlich immer wieder auf den riesigen blauen Planeten vor ihnen. „Is‘ ‘ne unschlagbare Aussicht. Was gefällt Ihnen am besten, Stone?“ – „Die Stille.“
Der Anblick, der sich Kowalski und Stone im Weltraumthriller „Gravity“ vor der ausbrechenden Katastrophe bietet, wird von jedem Astronauten als einer der berührendsten Momente ihres Lebens beschrieben. Seitdem die Europäische Weltraumorganisation (ESA) das erste Astronautenausbildungsprogramm 1978 ausgeschrieben hat, wollten insgesamt knapp 40.000 Aspiranten Teil einer Weltraummission sein. Für den Deutschen Alexander Gerst hat sich dieser Traum im Mai 2014 erfüllt. Und 2018 erneut.
Als dritter Deutscher auf der ISS
2008 bewirbt sich Alexander Gerst als einer von insgesamt 8.413 Aspiranten für das dritte Astronautenausbildungsprogramm der ESA. Der großgewachsene Diplom-Geophysiker und Geowissenschaftler aus Künzelsau wird am 20. Mai 2009 nach einjährigem Auswahlverfahren als einer von sechs Kandidaten für das ESA-Astronautenkorps ausgewählt. Alle Vorbereitungen liefen nach Plan und so begann für ihn am 28. Mai 2014 um 21.56 Uhr (mitteleuropäischer Zeit) in Baikonur (Kasachstan) die außergewöhnlichste und weiteste Reise seines Lebens.
Zusammen mit seinem russischen Kollegen Maxim Wiktorowitsch und dem Amerikaner Gregory Reid Wiseman war Gerst bis zum 10. November 2014 Teil der ISS-Expedition 40, der 40. Langzeitbesatzung der Internationalen Raumstation. Damit ist er nach Thomas Reiter und Hans Schlegel der dritte Deutsche, der jemals auf der ISS leben, arbeiten und forschen durfte. Aber bis dahin war es ein harter Weg – gespickt von unzähligen fachlichen, körperlichen und mentalen Prüfungen …
Nicht jeder eignet sich für eine Expedition ins All
Wer in der Internationalen Raumstation ISS – dem derzeit größte künstliche Objekt im Erdorbit – arbeitet, gehört zu den Besten der Besten: Nur mit ausgezeichneten wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse sowie einem bis in die Haar- und Nervenspitzen trainierten Körper und Geist, kann ein Raumfahrer seiner immensen Verantwortung gerecht werden.
Zudem sind die Besatzungsmitglieder neben der eigentlichen Reise ins All bereits während ihres vorbereitenden Trainings lange Zeit weg von Familie, Freunden und Zuhause – eine nicht zu unterschätzende psychische Belastung, die das kräfteraubende Training nicht erleichtert.
Wie lebt es sich im Weltraum?
7.30 Uhr: Der Wecker klingelt. Vorsichtig schält sich der Astronaut aus seinem an der Wand verankerten Schlafsack. Ohne diese Vorrichtung hätte er sich nachts einige blaue Flecken von unsanften Kollisionen mit der Umgebung geholt. Der Grund: die fehlende Schwerkraft.
Das monotone Rauschen des Ventilators schleicht sich wieder in sein Bewusstsein – und damit auch das Wissen, dass er ohne diesen nachts am eigenen ausgeatmeten Kohlendioxid ersticken würde. In der Schwerelosigkeit gibt es keine natürliche Zirkulation der Luft und so würde sich um das Gesicht eine Art Blase ausgeatmetes Kohlendioxid sammeln. Im besten Fall wacht der Astronaut rechtzeitig mit pochenden Kopfschmerzen und ausgetrocknetem Hals von selbst auf.
Alltag in der Schwerelosigkeit
Seine Kleidung? Hat er schon an. Alle drei Tage wechseln Astronauten die Einwegkleidung, eine Waschmaschine gibt es nicht. Auch der tägliche Gang zur Toilette spielt sich etwas anders ab als auf der Erde: Ohne Festschnallgurt und Staubsaugerprinzip würde es ziemlich schnell ziemlich unschön werden. Waschen muss sich unser Astronaut mit einem nassen Handtuch, denn Wasser ist auch auf der ISS eine kostbare Ressource. Zum Frühstück gibt es Allerlei aus Dosen, Tuben und Plastikbeuteln – Hauptsache es schwebt nicht davon.
Dass man das Essen kaum schmeckt, darf einen nicht stören. Ohne Gravitation verlagert sich nämlich das Wasser in unserem Körper. Wir haben den Eindruck, ständig Schnupfen zu haben und können so nicht mehr gut schmecken. Durch die Umverteilung unseres Blutes schwellen zusätzlich die Geschmacksknospen auf der Zunge und die Schleimhäute in Rachen und Nase an, was den Geruchs- und Geschmackssinn ebenfalls abstumpft.
Laufen, basteln, forschen
Täglich zwei Stunden Sport auf dem Laufband oder Fahrrad sind auf der ISS Pflicht, um einen Abbau der Muskeln zu verhindern. Diese werden in der Schwerelosigkeit nur sehr gering beansprucht und so kommt es temporär zu einem Knochen- und Muskelschwund. Der Großteil des Tages besteht für unseren Astronauten aber aus der Wartung und Durchführung diverser Forschungsprojekte, Experimente und gegebenenfalls Außenbordeinsätzen – den eigentlichen Gründen seiner Mission.
Nach vierjährigem Trainingsmarathon zur „Ignition“
Als am 1. September 2009 das „Basic Training“ für Alexander Gerst im Europäischen Astronautenzentrum (EAC) in Köln beginnt, steht er am Anfang einer langen Kette an Prüfungen.
Viereinhalb Jahre und drei große Trainingsblöcke später beherrscht er nicht nur die Systeme an Bord der ISS im Schlaf, er hat auch den Flug zur Raumstation und zurück mehrfach durchgespielt, ist optimal auf Notfälle vorbereitet, hat in dem 120 Kilogramm schweren Raumanzug in einem Tauchbecken unzählige Außenbordeinsätze im All simuliert, seinen Körper extremen Kräften in der Zentrifuge ausgesetzt und seine zwei Crew-Mitglieder intensiv kennengelernt. Und das auch unter extremsten Bedingungen im minus 30 Grad kalten sibirischen Wald ohne Zelt.
Der Mann der Stunde
Am 17. März 2014 steht Alexander Gerst in einer Pressekonferenz der EAC per Videoübertragung aus Houston den brennenden Fragen der Journalisten Rede und Antwort. Mit leuchtenden Augen, einer unerschütterlichen Geduld und in verständlichen Worten beantwortet er eine Stunde lang sowohl allgemeine Fragen („Sind Sie aufgeregt?“), als auch konkretere („Was sind ihre genauen Aufgaben auf der ISS?“). Und um auf letztere zurück zu kommen: Was gehört eigentlich zur ISS-Expedition 40?
„Wir haben auf unserer Expedition 162 Experimente an Bord, die wir durchführen werden. Da sind einige dabei, die ganz neu sind. Da ist zum Beispiel der europäische, elektromagnetische Levitator, ein Untersuchungsschmelzofen für neue Legierungen. Das ist ein ganz neues Experiment, wo wir physikalische Eigenschaften zukünftiger Legierungen untersuchen, die wir dann vielleicht zehn Jahre später in Automotoren oder Flugzeugtriebwerken finden.
Wir haben aber auch Experimente an Bord, die wir in langen Zeitreihen durchführen und wo es zum Beispiel darum geht, wie wir den Knochenschwund besser verstehen können […] und davon betroffenen Menschen helfen können.“ Die Bedingungen auf der ISS sind gerade für das Langzeitexperiment zum Knochenschwund ideal, da die Astronauten während ihres Aufenthalt selbst vorübergehend damit zu tun haben und sich ihre Knochen zurückbilden.
Eins spürt man ganz deutlich, wenn man Gerst auf der großen Leinwand der Pressekonferenz sieht und reden hört: Bei diesem Mann ist das, was man als Entdecker-Gen bezeichnet, ganz tief verwurzelt. Seine Begeisterung, die er während den 55 Minuten versprüht, steckt an und es macht Spaß, ihm dabei zuzuhören, wie er so viel wie möglich von seiner Mission mitteilen und die Menschen so dran teilhaben lassen will.
2018 flog „Astro Alex“ erneut ins All
Zwar kehrte Alexander Gerst am 10. November 2014 wieder auf die Erde zurück – doch wirklich lange hält es ihn nicht auf seinem Heimatplaneten. 2018 flog Gerst wieder ins All. Diesmal übernahm er sogar das Kommando auf der ISS – und schreibt damit deutsche Weltraumgeschichte. Noch nie zuvor wurde einem deutschen Astronauten diese Ehre zuteil.
Der als „Popstar unter den Astronauten“ gefeierte Geophysiker verbrachte sechs Monate November 2018 insgesamt sechs Monate auf der Internationalen Raumstation ISS, drei davon als Kommandant.
Der Popstar unter den Astronauten
Der Mann der Stunde: Expeditionen in die Antarktis und zu Vulkanen waren dem Diplom-Geophysiker und Geowissenschaftler Alexander Gerst nicht mehr genug. Am 28. Mai 2014 startete seine bislang weiteste Expedition: zur ISS in 400 Kilometern Höhe. Vier Jahre später flog @Astro_Alex (wie er unter Twitter-Usern bekannt ist) erneut ins All. Diesmal übernahm er sogar für drei Monate das Kommando auf der ISS.
Mit diesem Team arbeitete „Astro Alex“ auf der ISS
Sechs aus 8.413: Dieses Team ging aus dem Rekrutierungsprogramm 2008/2009 der ESA hervor. Von links: Timothy Peak (GB), Samantha Cristoforetti (IT), Andreas Mogensen (DK), Alexander Gerst (DE), Thomas Pesquet (FR) und Luca Parmitano (IT).
Unterwasser-Training für Außenbordeinsätze
Mithilfe von Gewichten und Auftriebsapparaten wird die im All herrschende Schwerelosigkeit simuliert. Die Astronauten üben so, sich in den Raumanzügen zu bewegen, zu arbeiten und große Objekte zu bewegen.
Training in der Zentrifuge
Das etwas andere Workout
Um dem Muskelabbau im All entgegenzuwirken, müssen die Astronauten täglich mindestens zwei Stunden lang auf dem Laufband trainieren – stets durch einen Festschnallgurt gesichert.
Überlebenstraining bei minus 30 Grad im sibirischen Wald
Es besteht die Möglichkeit, dass die Raumschiffkapsel in einem abgelegenen, kalten Gebiet landet und es etwas dauert, bis die Bergungsmannschaft dort eintrifft. Die Astronauten lernen, unter rauen klimatischen Bedingungen zu überleben, bis sie gerettet werden.
Die ISS im Orbit
Die Internationale Raumstation ISS vom Space Shuttle Endeavour aus gesehen (2010).
Ohne Netz und doppelten Boden
Astronaut Luca Parmitano im Juli 2013 während seines ersten Außenbordeinsatzes.
Einstieg zur Luftschleuse
Samantha Cristoferetti beim Training für Außenbordeinsätze. Im Europäischen Astronautenzentrum (EAC) in Köln lernt sie, sich richtig an der Station zu befestigen, spezielle Werkzeuge zu benutzen, mit ihrer Crew und der Bodenkontrolle zu kommunizieren und in komplexen Situationen den Überblick zu bewahren.
Ich hab etwas im Auge!
Was macht man, wenn einem im All etwas ins Auge fliegt? Ohne Schwerkraft ist das übliche Ausspülen mit Wasser unmöglich. Also haben Ingenieure diese wenig vertrauenerweckende Augenspülung entwickelt. Sie pumpt eine Lösung zum Spülen in die Brille und saugt diese auch wieder ab. Laut Gerst fühle sich die Prozedur zwar „irgendwie komisch“ an, sei aber nicht allzu schlimm.