Der Mensch als Industriepalast (1926)
Der Mensch als Industriepalast (1926)
Spezialisierte Humanoide, die je nach sozialer Stellung Laborkittel, Arbeiterkleidung oder Anzug tragen, sorgen für einen reibungslosen Ablauf aller Körperfunktionen. Henning M. Lederer visualisiert dies in einem Video auf seinem YouTube-Kanal.
Wie die Natur technische Aufgaben löst (1931)
Die Illustrationen aus Kahns fünfzigjähriger Schaffenszeit führen durch den menschlichen Körper, aber auch in die Welt der Pflanzen und Tiere und deren Mikro- und Makrokosmos – immer in Bezug auf den lebendigen, handelnden Menschen. Diese Illustration von 1931 zeigt, inwieweit die Knochen und Gelenke des menschlichen Körpers in ihren Grundformen und ihrer Arbeitsweise mit unseren Konstruktionen in der Baukunst und Technik übereinstimmen.
Der Kauakt (1939)
Fritz Kahn verglich das menschliche Gebiss mit einem Handwerkerkasten, der verschiedene Werkzeuge enthält: Die Schneidezähne zerschneiden die Nahrung (a), die Eckzähne stechen in sie ein (b), die Reißzähne zersägen sie (c) und die Mahlzähne (d) zermahlen die Krümel. Die Zeichnung darunter bildet die Zunge ab: Sie verwandelt die von den Zähnen zerkleinerte Nahrung in einen Brei. Sie ist mit Warzen besetzt, die die Form von Keulen, Rollen, Reibeisen und Bürsten besitzen.
Wie lang ist eigentlich unser Darm? (1926)
Mit dieser Abbildung zeigt Kahn, dass die Darmlänge bei pflanzenfressenden Schafen 24-mal so lang ist wie ihr Kopf und Rumpf zusammengenommen. Im Vergleich dazu ist der des Menschen nur neunmal und der eines Hundes sogar nur viereinhalbmal so lang. Was in Worten vielleicht nicht sofort einleuchtet, vermittelt die Bildsprache spielerisch wie von selbst.
Kaffee- und Teeverbrauch (1926)
Wer schaut sich schon die nackten pro Kopf-Zahlen des jährlichen Kaffee- (kg) und Tee-Konsums (g) einer Bevölkerung an? Bei dieser unterhaltsamen Art, Statistiken darzustellen, lohnt es sich schon eher, genauer hinzusehen. Genau diese Stärke der sogenannten Infografik erkannte der Mediziner früh: Während der Mensch Texte erst verstehen und inhaltlich einordnen muss, kann das Gehirn die aufbereiteten Informationen viel leichter aufnehmen. Ein Bild sagt eben mehr als tausend Worte.
Wo nimmt der Körper ab? (1926)
Nicht nur die Fettreserven unter der Haut schwinden, wenn der Mensch abnimmt. Auch seine Organe magern ab – und das keineswegs gleichmäßig. Die Grafik zeigt etwa, dass die Leber mit 54 Prozent ganz schön klein werden muss, wenn wir abnehmen.
Wie lange hungert ein Lebewesen, bis es stirbt? (1926)
Um beim Thema Essen zu bleiben: Wenn ein Mensch zwölf Tage hungert, stirbt er vergleichsweise schnell: Ein Käfer hält 1200 Tage aus, ohne etwas zu fressen.
Das menschliche Auge (1939)
Etwas weit hergeholt scheint es, den Lid- und Tränenapparat eines Menschen mit einer automatischen Scheibenwischanlage eines Autos zu vergleichen. Betrachtet man das Bild, leuchtet die Analogie jedoch ein.
Dreimal um die Welt (1933)
Der Reichspfennig der Weimarer Republik bestand aus Kupfer und wog circa zwei Gramm. Kahn rechnete aus, wieviel Energie in die Herstellung eines Pfennigs gesteckt werden muss – sein Ergebnis: „In einem Pfennig ist so viel schlummernde Energie gebannt, dass sie hinreichen würde, einen 40.000-Tonnen Dampfer dreimal um die Erde zu treiben, wenn man sie völlig ausnutzen könnte.“
Walnuss und Menschenhirn (1939)
Das Gehirn – eine harte Nuss? Fallfrüchte sind naturgemäß so verpackt, dass sie der Aufschlag auf den Boden nicht beschädigt. Das menschliche Hirn hat ähnliche Schutzfunktionen: (a) Kern/Gehirn, (b) weiche Kernhaut/Hirnhaut, (c) harte Kernhaut/Hirnhaut mit Vertikal- und Horizontalwand, (d) Steinschale/Knochenschale, (e) Fleischschale/Fleischhülle.
Wie viel isst der Mensch? (1926)
Der Zug, der mit den 15.000 Litern Bier und 6000 Litern Milch in den Rachen des Menschen fährt, veranschaulicht nicht nur, was ein Mensch so alles verzehrt, sondern auch, wie kreativ und humorvoll Fritz Kahn seine Illustrationen anfertigte.
Tageswachstum der Haare (1929)
„Der menschliche Körper produziert täglich 30 Meter Haarsubstanz. Würde man alle Haare in ein Endhaar einmünden lassen, so wüchse dieses in je 40 Minuten einen Meter vorwärts.“
Viermal um den Erdball (1943)
Ähnliches lässt sich auch mittels der Blutkörperchen des menschlichen Körpers abbilden: Würde man diese – insgesamt 25 Billionen – zu einer Kette aneinanderreihen, würde sie viermal um den Globus reichen.
Biologie des Bratenduftes (1926)
Einfacher lässt sich wohl nicht darstellen, wie uns bei dem Geruch einer knackigen Bratwurst das Wasser im Munde zusammenläuft. Steigt uns der leckere Dampf in die Nase, kommunizieren die Facharbeiter in unserem Kopf: Riecht es? Wonach riecht es? Steht fest, dass es Fleisch ist, gibt unser Speichel-Zentrum diese Information an die Unterzungen-Speicheldrüse weiter.
Es bedarf schon einer äußerst kreativen und fantasievollen Vorstellungskraft, wenn man das menschliche Nervensystem mit Stromkabeln darstellt oder etwa die Funktionsweise der Muskeln mithilfe von Automotoren visualisiert. Aber nicht nur das: Es erfordert auch eine unermüdliche Geduld und ein breites Fachwissen, wenn man sich vornimmt, einem Laien zu erklären, wie die Mechanismen des menschlichen Körpers funktionieren. Ähnlich schwer dürfte es fallen, einem Dreijährigen zu erklären, wie Bruchrechnen funktioniert.
Zeichnerisches Können brachte er nicht mit, als sich der deutsche Naturwissenschaftler, Gynäkologe und Schriftsteller Fritz Kahn dazu entschloss, für erwachsene Menschen naturwissenschaftliches Fachjargon in leicht verständliche Bildsprache zu übersetzen und damit die komplexen Abläufe des menschlichen Körpers zum Leben zu erwecken. Doch damit wurde er berühmt – lange vor der Zeit von Zeichentrickfilmen mit sprechenden Blutkörperchen, Computerschaubildern oder dreidimensionalen Infografiken.
Vereinfachte Wahrheit?
Dafür musste er sich anfänglich auf einen Kompromiss einlassen, der manch einem Mediziner – und sicherlich auch ihm selbst – nicht leicht gefallen sein mag: bessere Verständlichkeit auf Kosten der Präzision. Aber es war ihm lieber, dass seine Leser die komplexen Tiefenstrukturen der Natur verstehen, als dass sie sich überfordert abwenden. Auf diese Weise gelang es ihm, „jede Aussage mit einem Bild zu illustrieren, das auch dem begriffsstutzigsten Menschen ein Loch in den Schädel haut“, so seine Worte.
In der Praxis lief es so ab, dass wechselnde Illustratoren und Zeichner versuchen mussten, seine teilweise absonderlichen Vorstellungen auf Papier zu bringen. Keine einfache Aufgabe, wenn man etwa an das Schaubild denkt, mit dem Kahn den Lid- und Tränenapparat des menschlichen Auges mit der automatischen Scheibenwaschanlage eines Autos vergleicht.
Der Bildband „Fritz Kahn: Infographics Pioneer“
Der mehrsprachige Bildband aus dem Taschen Verlag enthält mehr als 350 der eindrucksvollsten Illustrationen aus Kahns Büchern, inklusive Original-Bildunterschriften, drei Texten aus Kahns Feder, einem Vorwort von Steven Heller und einem ausführlichen Essay zu Kahns Wirken und Bedeutung.
Schädliches Schrifttum unter den Nazis
Sein Lebensweg ähnelte dem vieler deutscher Juden zur damaligen Zeit: Geboren im Jahr 1888 erhielt der junge Fritz Kahn als Sohn eines jüdischen Arztes zunächst eine humanistische Schulbildung und studierte an der Berliner Universität, der Charité, Medizin. Bald verspürte er den Wunsch, sein Wissen mit anderen zu teilen und sich gesellschaftspolitisch zu engagieren – und damit in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.
Nach der Machtübernahme der Nazis musste Kahn im Jahr 1933 aus Deutschland fliehen und emigrierte mit seiner Familie zunächst nach Palästina. Kurz nach der Reichskristallnacht 1938 wurden seine Bücher verbrannt und verbannt, das Aufklärungswerk „Unser Geschlechtsleben“ etwa wurde polizeilich verboten und alle auffindbaren Exemplare vernichtet. Anfang 1941 gelang Kahn schließlich die Flucht mit seiner Frau Erna und der Hilfe von Albert Einstein in die USA, wo sich die Familie in Manhattan niederließ. Seine Werke schienen in Vergessenheit zu geraten.
Zufallsfund eines Lebenswerks
Fast 70 Jahre später stolperte der junge Designer Thilo von Debschitz wie durch Zufall über eine von Kahns faszinierenden Darstellungen, als er in einer rumänischen Designzeitschrift blätterte. Da er und seine Schwester Uta von Debschitz ebenso zufällig schon seit zwanzig Jahren persönlichen Kontakt zu Kahns Sohn Emanuel hatten, kam ihnen gleich die Idee, das Bildwerk des Vaters in einer Monografie zu präsentieren. Und tatsächlich: Nach intensiver Spurensuche und aufwendiger Recherchearbeit gelang es ihnen, der Nachwelt den visuellen Schatz aus den Büchern Fritz Kahns wieder sichtbar zu machen.