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Die grüne Fee: Wie Absinth zum Kultgetränk wurde

Foto: Envato / FabianMontano

Die grüne Fee: Wie Absinth zum Kultgetränk wurde

Er inspirierte Künstler und Revolutionäre – doch dann wurde Absinth aufgrund von „Gefahren für die Gesundheit“ verboten. Nach einem Jahrhundert in der Illegalität ist das Alkohol-Getränk heute wieder im Handel. Doch was ist nun dran an den alten Gerüchten?

Absinth: Wer diesen Begriff hört, denkt an das gefährlichste aller Getränke, das jede Menge Künstler in den Wahnsinn getrieben, unzählige Frauen und Männer zu sexbesessenen Bestien ohne Sinn für Anstand und Moral gemacht haben soll und angeblich ein außerordentlicher Motor für Kreativität mit hohem Suchtpotential war. Tatsächlich lassen die Geschichten über Absinth das Getränk wie eine Art trinkbares Superkokain des 19. Jahrhunderts erscheinen.

Doch jetzt, einige Jahre nach einem Jahrhundert strengsten Verbots, ist der Kultdrink der Belle Epoque, „die grüne Fee“, wie Absinth auch genannt wird, wieder in vielen Bars erhältlich, heute angeblich frei von gefährlichen Inhaltsstoffen. Und Fans schwören – wie damals – mit Inbrunst auf die besonderen Eigenschaften des grünen Getränks.

Lieblingsgetränk der breiten Massen und der Bohème

Um die Entstehung des Absinths ranken sich etliche Legenden. Wirklich belegt ist nur: 1777 lebte in der Schweiz im idyllischen Val de Travers eine kräuterkundige Frau – früher sprach man von einer „Hexe“ – namens Henriette Henriod. Von ihr ist überliefert, dass sie einen stark alkoholischen Kräuterlikör produzierte, der gegen „Würmer aller Art und Erkrankungen des Leibes und Gedärms“ außerordentlich wirksam sein sollte. Ein Leib- und Magentonikum also, dessen Rezept sie an einen gewissen Henri Pernot weitergab, der die erste professionelle Destillation 1797 durchführte.

Bereits 1805 begann er mit der großindustriellen Produktion von Absinth in Pontarlier, keine zehn Kilometer von dem Grenztal entfernt. Schon bald wurde die stark alkoholhaltige Spirituose – Absinth kann bis zu 72 Prozent Alkohol enthalten – zum Lieblingsgetränk der breiten Massen und der Bohème. Der beispiellose Siegeszug des ehemaligen Gesundheitstranks gipfelte im französischen Algerienkrieg 1844 bis 1847, wo Absinth für jeden Soldaten zum Pflichtgetränk wurde, da er „mit großem Erfolge als internes Mittel gegen Würmer und Ungeziefer“ einsetzbar war.

Nachtleben in Frankreich

Um 1850 ging die spätnapoleonische Zeit dem Ende entgegen, die Wirtschaft boomte und das französische Nachtleben begann förmlich zu explodieren. Überall schossen Bistros, Bars und Schänken aus dem Boden. Und jede von ihnen – von der Nobeltränke bis zur letzten Kaschemme, in der für die ganz Armen für ein paar Sous ein Liter Äther und ein Strohlager zu haben waren – schenkte Absinth aus.

Der starke Kräuterlikör, leicht mit Wasser verdünnt, wurde zum Alltagsgetränk für jedermann. Arbeiter und Edle, Künstler und Revolutionäre – alle tranken sie Absinth. Viele Maler, Bildhauer und Schriftsteller machten ihn zu ihrem Thema. So wurde Absinth zum Treibstoff der Moderne. Von den Folgen des Alkoholismus wusste man damals so gut wie nichts.

Unheilige Allianz gegen den Absinth

In diese Zeit ungehemmten Alkoholkonsums fiel ein Ereignis, das für die europäischen Winzer die absolute Katastrophe bedeutete: Die amerikanische Reblaus vernichtete in kürzester Zeit über neunzig Prozent der europäischen Weinstöcke. In der Folge wurde Wein teurer, Absinth blieb billig.

Die europäischen Winzer nahmen die Krise nicht einfach hin, sondern schlugen zurück: Gemeinsam mit der katholischen Kirche und den Temperenzlern, die erste Anti-Alkohol-Bewegung Europas, bildeten sie eine etwas seltsame Allianz, die versuchte, durch lancierte Medienberichte das Massengetränk Absinth zu dämonisieren. Alle üblen Folgen übermäßigen Alkoholgenusses wurden fortan dem Absinth zugeschrieben. Für den Missbrauch wurde sogar ein eigenes Wort geprägt: Absinthismus.

Als dann noch im schweizerischen Waadtland ein Bauer – angeblich im Absinthrausch – seine Familie tötete, war das Maß voll und die Empörung groß. Dabei interessierte niemanden, dass derselbe Bauer bereits mehrere Liter Wein konsumiert hatte, bevor er sein erstes von zwei Gläsern Absinth trank – und dann den Mord beging.

Ein europaweites Absinthverbot wurde gefordert und auch durchgesetzt. Um 1910 war Absinth in ganz Europa verboten. Die Weinlobby hatte ihr Ziel erreicht: Ihr wichtigster Konkurrent war vom Markt verdrängt.

Erblinden, Wahnsinn und Tod?

Woher der Begriff „grüne Fee“ kommt, ist nicht mehr eindeutig festzustellen. Vermutlich hat ihn der britische Bohèmien Oskar Wilde geprägt, als er einmal etwas tiefer ins Glas schaute. Denn viele der auch mit Fuselalkohol belasteten Absinthe wurden im 19. Jahrhundert mit Kupferverbindungen leuchtend grün gefärbt.

Von Oscar Wilde stammt übrigens auch das berühmteste Zitat über den Absinth: „Das erste Stadium ist wie normales Trinken, im zweiten fängt man an, ungeheuerliche, grausame Dinge zu sehen, aber wenn man es schafft nicht aufzugeben, kommt man in das dritte Stadium, in dem man Dinge sieht, die man sehen möchte, wundervolle, sonderbare Dinge“ …

Fast ein Jahrhundert lang war Absinth in Europa verboten. Und auch heute denken viele bei dem Begriff „Absinth“ an Erblinden, Wahnsinn und frühen Tod. Legenden haben eben oft starke Nachwirkungen – gleichgültig ob sie wahr sind oder nicht. Aber was war nun wirklich für die dem Absinth zugeschriebenen Wirkungen verantwortlich?

Bitteres Nervengift Thujon

Das Verbot wurde jedenfalls mit dem hohen Gehalt an Alpha-Thujon begründet. Dieses Nervengift sollte angeblich durch eine der Hauptingredienzien in den Absinth kommen: Das Wermutkraut schützt sich wie viele andere Kräuter auch durch Bitterstoffe vor Fressfeinden – und Thujon ist extrem bitter.

Untersuchungen in den neunziger Jahren ergaben allerdings, dass sowohl die Absinthe des 19. Jahrhunderts als auch moderne Destillate kaum mehr als fünf Milligramm Thujon je Liter enthielten.

Die gesetzlichen Grenzwerte liegen jedoch bei 35 Milligramm pro Liter. Um überhaupt die vielzitierte angebliche halluzinogene Wirkung des Thujon und dessen Nebenwirkungen zu verspüren, müsste ein Trinker an die fünf Flaschen (3,5 Liter) Absinth auf einmal konsumieren, was bereits wegen der enthaltenen Alkoholmenge absolut tödlich wäre.

Seit 2005 Absinth wieder in ganz Europa erlaubt

Alkohol ist schädlich, wenn man zu viel davon trinkt – und das gilt ebenso für Bier, Wein oder andere Spirituosen. Für ein Absinthverbot bestand also keine rechtliche Handhabe mehr; seit 2005 ist Absinth wieder in ganz Europa erlaubt.

Heute wird auch im schweizerischen Val de Travers wieder Absinth gebrannt – wie in alten Zeiten. Die wichtigsten Zutaten sind Wermut, Ysop, Melisse, Anis und Sternanis, Fenchel, Angelikawurzel, Koriander, Süßholz und Waldmeister. Das Destillat dieser Inhaltsstoffe enthält zwischen fünfzig und siebzig Prozent Alkohol und wird im Verhältnis eins zu fünf oder eins zu sechs mit Wasser verdünnt. Der ursprüngliche Absinth ist also eher ein Medikament als eine Droge.

Nicht müde, sondern fit am nächsten Tag

Und was ist mit den oft erwähnten, eher alkoholuntypischen Wirkungen des Absinth? Angeblich macht der echte Absinth nicht müde und verursacht keinen Kater am nächsten Tag, im Gegenteil, von Hellsichtigkeit, gesteigertem Körpergefühl und anregender Wirkung ist die Rede.

Absinthfreunde spekulieren darüber, dass es wohl am speziellen Zusammenspiel der ätherischen Öle aus den Heilkräutern im Absinth liegen könnte. Doch: Beim Alkohol macht die Dosis das Gift. Ein Gläschen – zwei Zentiliter mit der fünffachen Menge Wasser – wird vermutlich keinen dauerhaften Schaden anrichten. Solange es nur dabei bleibt…

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