Unser Bewusstsein wird zu Programmcode
Digitale Unsterblichkeit wird allgemein als die Digitalisierung der Persönlichkeit eines Menschen definiert. Da Computerprogramme unsterblich sind, könnten wir auf diese Weise ewig leben. Bereits im Jahr 2000 beschäftigten sich die Microsoft-Forscher Gordon Bell und Jim Gray in ihrer Forschungsarbeit „Digital Immortality“ mit dieser Zukunftsvision.
Digitale Unsterblichkeit durch den digitalen Zwilling
Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit entwarfen Bell und Gray ein System namens „MyLifeBits“. Dieses könnte theoretisch jedem Menschen ermöglichen, alle Aspekte seines Lebens zu digitalisieren und zu speichern – einschließlich Dokumenten, Fotos, Videos, Chatverläufen und anderen Formen von Daten.
Die Autoren argumentieren in „Digital Immortality“, dass durch das Sammeln dieser Informationen ein „digitaler Zwilling“ einer Person geschaffen werden könnte. Dieser hätte alle Eigenschaften des Nutzers von „MyLifeBits“ und könnte ewig leben. Das Projekt „MyLifeBits“ läuft intern bei Microsoft bis heute.
Einweg-Unsterblichkeit und Zweiwege-Unsterblichkeit
Zu den bekanntesten Forschern auf diesem Gebiet der digitalen Unsterblichkeit gehören ebenso Maggi Savin-Baden und David Burden. Das britische Forscherteam hat in seinem Buch „Digital Afterlife“ das Konzept der Einweg-Unsterblichkeit (one-way immortality) und der Zweiwege-Unsterblichkeit (two-way immortality) formuliert.
Einweg-Unsterblichkeit
Unter Einweg-Unsterblichkeit verstehen die beiden Forscher die passive digitale Präsenz von Menschen nach dem Tod, wie z. B. Gedenkseiten für Verstorbene auf Facebook. Auch das Hologramm des Vaters von Kim Kardashian, das ihr Kanye West alias Ye zum 40. Geburtstag schenkte, ist ein Beispiel für Einweg-Unsterblichkeit.
Zweiwege-Unsterblichkeit
Die Zweiwege-Unsterblichkeit bezieht sich auf interaktive digitale Avatare, die mit den Daten realer Personen trainiert wurden. Auch interaktive digitale Persönlichkeiten – wie Chatbots, die auf realen Personen basieren –, sind umfasst.
Hier ist die technische Entwicklung schon weit fortgeschritten. Inzwischen gibt es bereits „Griefbots“ (vom englischen Verb „grieve“, trauern), die nach dem Tod eines geliebten Menschen mit dessen Hinterbliebenen interagieren können. In dieser Reportage des amerikanischen Technologiemagazins „Wired“ hat ein talentierter Programmierer einem Chatbot für sein Smartphone die Persönlichkeit seines verstorbenen Vaters verliehen.
Zweiwege-Unsterblichkeit im Metaverse durch digitale Zwillinge?
Computergesteuerte Avatare haben in der Regel die Aufgabe, die Nutzer einer Online-Plattform mit Informationen oder virtuellen Gegenständen zu versorgen. Die dafür notwendigen KI-Programme sind in der Regel einfach gestrickt. Gleichzeitig schreitet die Entwicklung im Bereich der künstlichen Intelligenz stetig voran. Es erscheint daher realistisch, dass ein Entwicklungsschub im Bereich der KI-Routinen von computergesteuerten Avataren bevorsteht.
Wer digital unsterblich werden will, könnte also nach dem Vorbild des bereits erwähnten „MyLifeBits“ von Microsoft eine fortgeschrittene KI über Jahre hinweg mit Daten über sein Wesen und seine Persönlichkeit trainieren. Diese KI könnte daraus ein Profil erstellen, das es ihr ermöglicht, das Verhalten des Verstorbenen exakt nachzuahmen. Dieses Profil könnte dann mit einem Avatar im Metaverse verknüpft werden.
Stirbt der User, könnte der digitale Zwilling die Kontrolle übernehmen
Ist der Nutzer nicht mehr in der Lage, seinen Avatar selbst zu steuern, kann er diese Aufgabe einer fortgeschrittenen KI übertragen. Der „digitale Zwilling“ des Nutzers erlangt so ein Eigenleben im Metaverse – und tritt an die Stelle seines menschlichen Gegenübers, sobald dieser verstirbt. Da die KI mit den Verhaltensdaten des Verstorbenen trainiert wurde, kann sie auch mit anderen Nutzern interagieren – und sich dabei so verhalten, wie es der Verstorbene getan hätte.
Das Metaverse könnte also in Zukunft von unsterblichen digitalen Zwillingen bevölkert werden. Das würde sich nicht nur auf unseren Umgang mit dem Tod auswirken. Auch unsere Gesellschaft würde sich grundlegend verändern. Doch bevor es so weit ist, müssen unzählige komplexe Fragen geklärt werden. Die folgenden Gedankenexperimente kratzen nur an der Oberfläche eines möglichen gesellschaftlichen Umbruchs.
Welche Folgen hätte Datendiebstahl?
Praktisch alles, was online ist, kann ausgelesen und gestohlen werden. Wenn Datendiebe das digitale Bewusstsein eines weltbekannten Prominenten stehlen und für ihre Zwecke missbrauchen würden, könnte dies schwerwiegende Folgen haben.
Dürfen unsterbliche digitale Zwillinge dazulernen?
Moderne KI-Systeme sind lernfähig und können sich entsprechend weiterentwickeln. Es stellt sich die Frage, ob ein digitaler Zwilling noch ein solcher ist, wenn er über mehr Wissen verfügt als der Verstorbene. Zwar könnte einem digitalen Zwilling diese Fähigkeit theoretisch genommen werden. In diesem Fall wäre er jedoch ein statisches Abbild – und wahrscheinlich keine realistische Persönlichkeit mehr.
Digitale Zwillinge dürften nur bestimmte Erinnerungen des Verstorbenen mit anderen teilen
Im Idealfall weiß der „digitale Zwilling“ alles, was sein menschliches Gegenstück weiß. Dazu gehören auch Details, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Um zu verhindern, dass das digitale Abbild des Verstorbenen solche Details öffentlich macht, könnten diese während des Trainings der KI gesperrt werden.
Könnten unsterbliche digitale Zwillinge und Menschen in Zukunft die gleichen Rechte haben?
In vielen von uns steckt kriminelle Energie. Wie gehen wir in Zukunft vor, wenn ein digitaler Zwilling gegen das Gesetz verstößt? Wie müssen wir unsere Gesetze anpassen? Oder sollten wir digitalen Zwillingen grundsätzlich die Fähigkeit nehmen, Unrecht zu tun?
Reinwaschen der Vergangenheit durch digitale Unsterblichkeit?
Künstliche Intelligenz kann theoretisch auch historische Persönlichkeiten als Avatare nachbilden. Wie verhindern wir, dass bestimmte Interessengruppen versuchen, den Charakter solcher nachgebildeten Persönlichkeiten zu beschönigen?
Können digitale Zwillinge technisch veralten und damit ihre Unsterblichkeit verlieren?
Computersysteme entwickeln sich ständig weiter. Programmcode kann daher veralten. Dies geschieht häufig, wenn das Computersystem, für das er geschrieben wurde, durch ein moderneres ersetzt wird. In der heutigen IT-Welt ist dies an der Tagesordnung. Ein Großteil der Software, die mehrere Jahrzehnte alt ist, läuft auf modernen Betriebssystemen nur noch mit Mühe oder gar nicht mehr.
Auf lange Sicht könnten vor langer Zeit erstellte digitale Zwillinge mit modernen Computersystemen inkompatibel werden und damit veralten. Um dies zu verhindern, müsste der Programmcode der digitalen Zwillinge ständig an die neuesten Systeme angepasst werden. Hier stellt sich die Frage, ob solche Aktualisierungen auch als Veränderungen ihres digitalen Bewusstseins angesehen werden können.
Wir könnten unser Gehirn bereits digitalisieren lassen – doch es gibt einen Haken
Wann unsere technologische Entwicklung weit genug sein wird, ist selbstverständlich noch unklar. Trotz des Erfolgs von ChatGPT steckt künstliche Intelligenz immer noch in den Kinderschuhen. Dazu haben die Technologien zum Digitalisieren unserer Gedanken noch etliche technische Hürden zu überwinden.
Einige Start-ups werben jedoch bereits damit, den Inhalt des menschlichen Gehirns in Daten umwandeln zu können. Ein Beispiel ist die Firma Nectome, die Techniken anbietet, um Erinnerungen langfristig zu speichern. Alle bisherigen Techniken haben jedoch einen kleinen Nachteil: Sie sind absolut tödlich.