Zum Leben erweckt
Manche Menschen waren klinisch tot und konnten reanimiert werden. Einige von ihnen – darunter auch Kinder – berichten von so genannten Nahtoderfahrungen. Doch wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Und warum stärkt es den Glauben an ein Leben nach dem Tod?
Auf dem Weg in den Himmel
Während die Ärzte versuchen, sie wiederzubeleben, erlebt die junge Frau etwas Ungewöhnliches: Sie hat das Gefühl, in den Himmel zu kommen. „Ich habe eine unwahrscheinliche Wärme gespürt. In diesem Himmel, oder eben an dem Ort, wo ich mich zu diesem Zeitpunkt befand, traf ich auf meine Großeltern, die schon verstorben waren, und die beiden haben mich ganz herzlich begrüßt. Sie nahmen mich in ihre Mitte und führten mich dann durch ihr Reich, wie sie es nannten.“
Der Ausstieg aus dem Körper
Vor allem das Gefühl, außerhalb des eigenen Körpers zu schweben, ist ein immer wiederkehrendes Element in Berichten von Nahtoderfahrungen. Auch Christine Stein hatte so ein Erlebnis: „Ich habe quasi unter der Decke des OP-Saals geschwebt, hatte eine Art Vogelperspektive nach unten auf den Operationstisch und konnte mich dort liegen sehen.“
Himmel und Hölle, Licht und Horror
Die meisten Patienten berichten, dass sie sich durch einen Tunnel auf ein helles Licht zubewegten. Einige konnten im Moment des Herzstillstands ihren eigenen Körper von oben betrachten – eine sogenannte „außerkörperliche Erfahrung“. Bei anderen wiederum spult sich das Leben wie ein Film vor dem geistigen Auge ab. Interessant ist, dass fast alle Nahtodpatienten von euphorischen und friedlichen Gefühlen berichten. Sie hörten harmonische Melodien, schöne Klänge oder Stimmen. Und einige begegneten sogar Lichtwesen oder verstorbenen Verwandten, die sie aufforderten, wieder in ihren Körper zurückzukehren. Nur vier Prozent aller Nahtod-Patienten berichten von Horror-Erlebnissen, bei denen sie eine dunkle, höllische Welt betraten, von Dämonen bedroht und von Gefühlen wie Hass und Angst gequält wurden.
Immer gleiche Visionen
Eine weitere Möglichkeit wäre, dass körpereigene Stoffe, die wie Drogen wirken, für die Nahtoderlebnisse verantwortlich sind. Das Gehirn scheint uns sowohl bei einem Nahtoderlebnis als auch unter Drogeneinfluss etwas vorzuspielen. Auf LSD etwa entsteht beim Konsumenten das Gefühl, dass die Zeit stillsteht. Farben sind bunter, Geräusche intensiver. Es kommt zu Visionen von strahlendem Licht – viele Elemente also, die wir auch aus Nahtodberichten kennen. Diese LSD-Visionen entstehen im rechten Schläfenlappen des Gehirns, derselben Region, die auch bei Nahtoderfahrungen erregt wird. Somit liegt die Vermutung nahe, dass körpereigene Drogen, die beim Sterben ausgeschüttet werden, für die Nahtoderlebnisse verantwortlich sind. Doch Wissenschaftler glauben nicht daran: „Drogen lösen in der Regel wilde Halluzinationen, Horrortrips oder auch Schizophrenien aus“, sagt der Neurologe Dr. Michael Schröter-Kunhardt, „Nahtoderfahrungen dagegen bestehen aus standardisierten transkulturell gleichen Elementen.“
Nahtoderlebnisse – ein kulturübergreifendes Phänomen
Der Neurologe Michael Schröter-Kunhardt kennt solche Berichte. „Nahtoderfahrungen finden wir seit Jahrtausenden in allen Kulturen“, erklärt er. In seinen Studien hat der Wissenschaftler über 300 Fälle analysiert. „Sie bestehen aus denselben Elementen, aber in unterschiedlicher Füllung, das heißt, die Elemente sind unterschiedlich ausgestaltet, je nach Alter, Kultur und Religion.“
Nahtoderlebnisse bei Kindern
Weil Erwachsene von religiösen Vorstellungen beeinflusst sein könnten, schenken Wissenschaftler den Nahtoderlebnissen von Kindern besondere Aufmerksamkeit. Sie haben meist noch keine konkreten Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod. Der heute 70-jährige Robert Bartscher zum Beispiel hatte als Kind ein Nahtoderlebnis. Damals ließ sein Bruder aus Versehen einen Föhn in die Badewanne fallen, in der er saß. Für einige Sekunden stand er vor dem Tod. „Es hat sich angefühlt wie ein Taucher unter einer Eisdecke", beschreibt Robert Bartscher die Erfahrung. „Es war so angenehm, ich wollte gar nicht mehr zurück. Und dann kam eine Art Diskussion mit einem Licht. Dieses Licht hat mir zu verstehen gegeben, dass ich doch zurückmuss.“ Das Beispiel zeigt auch: Kinder und Erwachsene berichten tatsächlich von ähnlichen Erfahrungen.
Neue Forschungsvorhaben
Der Nahtodforscher Peter Fenwick ist bekannt für seine Nahtod-Studie: In mehreren Kliniken ließ er Koma-Patienten dauerhaft filmen und über ihren Betten Laptops installieren. Diese sind nur von der Zimmerdecke aus zu sehen. Schweben die Patienten also tatsächlich über ihrem eigenen Körper, müssten sie auch die Monitore sehen können. Mithilfe der Kamera wollen die Wissenschaftler den Vorgang dokumentieren. Vielleicht könnte damit der Beweis für die Trennung von Körper und Geist erbracht werden.
Optische Reize verändern die körperliche Wahrnehmung
Solche „Out-of-Body“-Erfahrungen haben Neurologen am Polytechnikum Lausanne untersucht. Den Forschern gelang es, bei Versuchspersonen das Gefühl zu erzeugen, den eigenen Körper zu verlassen. Bei einem Versuch wurden eine Testperson und eine Puppe gleichzeitig mit einem Stab am Rücken berührt. Die Puppe wurde dabei von hinten gefilmt. Die Probanden sahen die Berührung der Puppe durch eine Videobrille – und glaubten daraufhin, die Berührungen an der Figur zu spüren. Sie hatten das Gefühl, sich aus dem eigenen Körper heraus in den Körper der Puppe zu bewegen. Unser Gehirn verändert durch optische Reize die körperliche Wahrnehmung. Verantwortlich dafür ist der hintere Schläfenlappen im Gehirn. Dort werden optische Eindrücke mit der Vorstellung des Raumes verknüpft. So lässt sich auch das Out-of-Body-Phänomen künstlich erzeugen.
Psychische Spätfolgen
Robert Bartscher trägt von dem Unfall keine bleibenden Schäden davon. Seine Erlebnisse allerdings behält er für sich. „Ich hab es niemandem mitgeteilt“, sagt er. „Sonst wird man doch für bekloppt gehalten.“ Viele Kinder haben nach einem Nahtod-Erlebnis das Gefühl, dumm, verrückt oder anders zu sein, so das Ergebnis einer amerikanischen Langzeitstudie. Das Erschreckende: Zehn Jahre nach der Erfahrung hat ein Drittel der Kinder Drogen- und Alkoholprobleme. Und 21 Prozent begehen sogar Selbstmord.
Sekunden im Jenseits
Eine von ihnen ist Christine Stein: Im März 2000 hat die damals 19-Jährige einen schlimmen Autounfall. Eingeklemmt liegt sie unter den Metalltrümmern ihres Unfallwagens. Hirnquetschungen, eine gerissene Lunge, etliche Brüche, eine gerissene Aorta – Christine schwebt in Lebensgefahr. Bei der Notoperation bleibt plötzlich ihr Herz stehen. Christine Stein atmet nicht mehr. Sie ist klinisch tot – 23 Minuten lang.
Beweis für ein Leben nach dem Tod?
Himmel und Hölle, Licht und Horror – die Erlebnisse von Menschen, die an der Schwelle zum Tod standen, hatten vermutlich einen starken Einfluss auf die religiösen Vorstellungen vom Jenseits. „Man kann sagen, dass Nahtoderfahrungen die Grundlage aller Religionen in ihrem Glauben an ein Leben nach dem Tod sind“, glaubt der Neurologe Dr. Michael Schröter-Kunhardt. „Die Religionsgründer hatten ähnliche Visionen, bevor sie anfingen, ihre Religionen zu predigen.“ Viele Betroffene werten Nahtoderfahrungen auch als einen Beweis für ein Leben nach dem Tod.
Was geschieht im Gehirn?
Doch was genau passiert an der Schwelle zum Tod in unserem Gehirn? Manche Wissenschaftler vermuten, dass Sauerstoffmangel zu den Nahtoderlebnissen führt. Um dies genauer zu untersuchen, wurde bei Experimenten der US-Air-Force Versuchspersonen künstlich Sauerstoff entzogen. Dazu beschleunigten die Forscher eine Testperson in einer Zentrifuge so sehr, dass diese bewusstlos wurde. Während des Tests maßen sie die Gehirnaktivität, den Sauerstoffgehalt im Blut und die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn.
Tunnelblick durch Sauerstoffmangel?
Die Forscher stellten bei ihrem Versuch fest, dass das Blut durch die Fliehkraft so schwer wurde, dass das Herz nicht mehr genügend Sauerstoff ins Hirn pumpen konnte. Dadurch verengte sich das Sichtfeld der Versuchsperson, das Bild eines Tunnels entstand. Doch kann das ein Beweis dafür sein, dass Nahtod-Erlebnisse auf Sauerstoffmangel zurückzuführen sind? Der Neurologe Michael Schröter-Kunhardt ist skeptisch: „Ich glaube nicht, dass Sterbeerfahrungen auf Sauerstoffmangel zurückzuführen sind. Es gibt genug Fälle, in denen die Hirnfunktionen und auch die Sauerstoffversorgung ausreichend waren.“
Alles nur ein Traum?
Sind Nahtoderfahrungen dann nur traumähnliche Zustände, in denen das Sterben verarbeitet wird? Immerhin kommt es auch im Traum zu den Fall-, Flug- und Schwebeempfindungen, von denen viele Nahtodpatienten berichten. Doch im Gegensatz zu Träumen können Sterbeerfahrungen keiner Schlafphase zugeordnet werden. Sie sind nicht individuell, sondern folgen einem Muster mit wiederkehrenden Elementen. Außerdem können sich Nahtod-Patienten sehr genau an das Erlebte erinnern. „Man kann es nicht mit einem Traum vergleichen, dafür war es viel zu real“, sagt Christine Stein.
Ist der Tod Programm?
Nach dem jetzigen Stand der Forschung gehen Wissenschaftler davon aus, dass das Sterben als einmalige Erfahrung in uns angelegt ist. Im Notfall wird dann ein biochemischer Mechanismus in unserem Gehirn ausgelöst. „Nahtoderfahrungen sind meiner Ansicht nach ein neurobiologisch genetisch angelegtes Programm des Gehirns“, sagt Dr. Michael Schröter-Kunhardt. „Es wird im Sterben abgerufen und bereitet den Erlebenden auf ein Leben nach dem Tod vor.“