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Spielerisches Lernen gehört zu den ältesten Lehrtechniken überhaupt. Spielelemente in Marketingaktionen wie Punkte sammeln und Gewinnspiele lassen sich bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. Ist Gamification also nur alter Wein in neuen Schläuchen? Nicht ganz, denn was wir heute unter Gamification verstehen, ist konsequent auf moderne digitale Plattformen ausgerichtet – und könnte die Online-Landschaft bald dominieren. Der populäre Designtrend, der Apps wie Duolingo und Temu zum Welterfolg verholfen hat, wird allerdings auch kritisch gesehen.
Die gängigsten Gamification-Techniken
Punkte
Wie in klassischen Computer- und Videospielen besitzen Nutzerinnen und Nutzer von Gamification-Apps oft ein Punktekonto, das sich beim Lösen von Aufgaben erhöht. Je schwieriger die Aufgabe, desto mehr Punkte bringt sie ein. Zu einem Punktesystem gehören traditionell Bestenlisten, anhand derer sich Spielerinnen und Spieler miteinander messen können. Auch spezielle Belohnungen beim Erreichen bestimmter Punktzahlen sind in Gamification-Designs üblich.
Erfahrungspunkte
Das Konzept von Erfahrungspunkten in Gamification-Plattformen stammt aus Rollenspielen. Spielerinnen und Spieler erhalten Erfahrungspunkte für das Lösen von Aufgaben. Haben sie eine gewisse Anzahl davon gesammelt, erreicht die Spielfigur eine neue Stufe, auch Level genannt. Dies geht meistens damit einher, dass sich die Charakterwerte der Spielfigur erhöhen. Sie entwickelt sich somit weiter und erlangt neue Fertigkeiten – so wie ein Mensch, der im Verlauf seines Lebens zunehmend an Erfahrung gewinnt.
Das Gefühl, dass sich die Spielfigur weiterentwickelt, motiviert ungemein zum Weiterspielen. Erfahrungspunkte gehören deswegen zu den beliebtesten Gamification-Konzepten.
Fortschrittsbalken
Fortschrittsbalken in Computer- und Videospielen dienten ursprünglich dazu, den Fortschritt des Ladens von Spieledaten anzuzeigen. In den letzten Jahren hat sich diese Funktion jedoch gewandelt. Inzwischen zeigen Fortschrittsbalken auch den Zustand diverser Spielabläufe an. Etwa, wie weit Spielerinnen und Spieler dem Lösen einer Aufgabe oder dem Durchspielen eines Levels nahe sind. Dies unterstützt sie dabei, die Dauer von Spielabläufen einzuschätzen.
Gamification-Apps, die gezielt Fortschrittsbalken einsetzen, eignen sich somit besonders für eine schnelle Runde zwischendurch. Wenn der Fortschrittsbalken anzeigt, dass die Spielenden kurz vor der Lösung einer Aufgabe stehen, motiviert dies zudem ungemein, die Aufgabe schnell abzuschließen.
Quests und Herausforderungen
Im klassischen Spieldesign hängen Quests – frei als Heldenaufgaben übersetzbar – unmittelbar mit der Story eines Computer- und Videospiels zusammen. Klassische Quests können das Besiegen eines Oberbösewichts oder das Befreien eines unterdrückten Königreichs sein. Im moderneren Spieldesign ist der Quest-Begriff flexibler und kann alle Arten von Aufgaben bezeichnen, wie etwa „Sammle 20 Sterne“ oder „Rede mit allen NPCs“ oder „Finde in jedem Level eine steinerne Statue“.
Solche Aufgaben sind oft mit zeitbegrenzten Herausforderungen verbunden, wie z.B. „Löse die Aufgabe so schnell wie möglich“ oder „Sammle 20 Sterne in einer bestimmten Zeit“. In modernen Gamification-Apps wird das erfolgreiche Absolvieren von Quests und Herausforderungen meist mit Punkten, Erfahrungspunkten oder Abzeichen belohnt. Aufgrund ihrer spielerischen Wirkung sind Quests ein gängiger Bestandteil moderner Gamification-Plattformen.
Abzeichen
Abzeichen haben eine dekorative Funktion, die zum Weiterspielen motivieren soll. Spielerinnen und Spielern erhalten Abzeichen generell für das Erreichen bestimmter Meilensteine – das Erzielen einer bestimmten Punktzahl, das Erfüllen einer großen Zahl von Aufgaben oder auch eine besonders lange Mitgliedschaft in der Community. Für maximale Wirkung sind Abzeichen üblicherweise prominent platziert – wie etwa direkt neben dem Namen der Spielfigur, damit deren Status sofort erkennbar ist.
Avatare
Auch Avatare sind in Gamification-Apps gebräuchlich. Da sie uns ermöglichen, eine individuelle digitale Repräsentation zu erstellen, können sie uns in kurzer Zeit ans Herz wachsen. Zudem ist es gängig, dass sich Fortschritte im Spiel und Belohnungen in der Darstellung unserer Avatare widerspiegeln. Dies kann ungemein zum Weiterspielen motivieren.
Storytelling
Schon in der frühen Entwicklung der Computer- und Videospiele in den 1980er-Jahren zeichnete sich ab, dass Storytelling stark zum Spielspaß beitragen kann. Eine Hintergrundgeschichte erzeugt Atmosphäre und verleiht den Handlungen von Spielerinnen und Spielern mehr Gewicht. Das Gefühl, Teil einer Handlung zu sein und auf ihren Ausgang Einfluss nehmen zu können, kann enorm zum Weiterspielen anregen.
Die bekanntesten Apps mit Gamification-Elementen
Duolingo
Duolingo ist die derzeit erfolgreichste Sprachlern-App und setzt konsequent auf Gamification. Für richtig zugeordnete Vokabeln und richtig beantwortete Quizfragen erhalten die Nutzerinnen und Nutzer Punkte, sammeln Abzeichen und steigen in Bestenlisten auf. In einigen Sprachen gibt es auch kurze Storys, in denen die Lernenden ihr Hör- und Leseverständnis unter Beweis stellen müssen.
Ein Fortschrittsbalken zeigt stets an, wie viele Übungen in der aktuellen Lektion noch zu absolvieren sind. Die Gamification-Elemente von Duolingo sollen die Nutzerinnen und Nutzer der App motivieren, täglich an ihren Sprachkenntnissen zu feilen. Die ungebrochene Popularität von Duolingo scheint zu beweisen, dass dies gelingt.
Quelle: YouTube / Duolingo
Zombies, Run
Eines der kreativsten Beispiele für Gamification-Storytelling. Die App versetzt Spielerinnen und Spieler in eine fiktive Zombie-Apokalypse. Vor diesem Hintergrund müssen verschiedenste Missionen erfüllt werden, indem Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der echten Welt ihre Jogging-Fitness beweisen.
Das beliebte Diskussionsforum Reddit verbindet klassische Forendiskussionen mit Social Media und Gamification-Elementen. Nutzer erhalten für Beiträge und Kommentare Karma-Punkte, die qualitativ hochwertige Inhalte und positive Interaktionen belohnen sollen. Dazu bietet die App Auszeichnungen und Awards, die erreichte Meilensteine belohnen. Diese Elemente sollen Reddit-Nutzer motivieren, sich aktiv und konstruktiv an der Community zu beteiligen und wertvolle Inhalte zu teilen.
Temu
Die umstrittene Shopping-App verdankt ihren Erfolg zu einem großen Teil Gamification-Elementen wie Punkten und Belohnungen. Ferner sind ganze Minispiele wie Roulette und eine virtuelle Fischzucht integriert. Hier können Nutzerinnen und Nutzer Münzen verdienen, um weitere Rabatte freizuschalten. Nutzer können tägliche Belohnungen einsammeln und werden ermutigt, mithilfe eines Referral-Systems Freunde einzuladen.
Eines der umstrittensten Gamification-Elemente der Temu-App sind Countdowns – zahlreiche Boni und Rabatte lassen sich nur in einem begrenzten Zeitfenster kassieren. Diese Zeitfenster werden Nutzerinnen und Nutzern ständig vor Augen gehalten. Auf diese Weise werden oft Impulskäufe provoziert. Verbraucherschützer weisen darauf hin, dass die Temu-App somit Glücksspielelemente aufweist.
Die McDonald’s-Rabatt-App
Mithilfe der App MyMcDonald’s können durch gesammelte Punkte Rabatte, Prämien und Geschenke freigeschaltet werden. Die App kombiniert ein Punktekonto mit einem Fortschrittsbalken. Hierdurch sollen Nutzerinnen und Nutzer motiviert werden, weitere Meilensteine zu erreichen, die den Weg zu weiteren Belohnungen und Rabatten ebnen. Gewinnspiele und Sonderaktionen – wie eine jährliche Monopoly-Aktion – sind ebenfalls in die App integriert. Ähnlich wie bei der Temu-App sind viele Rabatte nur für einen begrenzten Zeitraum freischaltbar.
Gamification gab es schon, bevor die Bezeichnung erfunden wurde
Als Erfinder des Begriffs “Gamification” gilt gemeinhin der britische Spieledesigner Nick Pelling im Jahr 2002. Ausschlaggebend war, dass Pelling einen Auftrag erhielt, eine besonders leicht zugängliche Benutzeroberfläche für Geldautomaten zu entwerfen. Der Fachbegriff taucht im selben Jahr zum ersten Mal in wissenschaftlicher Fachliteratur auf. Spiele und Anwendungen, die wir heute als Gamification klassifizieren würden, waren jedoch schon viel früher auf dem Markt.
Edutainment als Gamification der 1980er- und 1990er-Jahre
In den 1980er- und 1990er-Jahren entwickelten sich Computer- und Videospiele allmählich vom Nischenmedium zum Massenphänomen. In der Folge hielten immer mehr Computer Einzug in die Familienhaushalte.
Da das Thema Gewalt in Computer- und Videospielen bereits Anfang der 1980er-Jahre kontrovers diskutiert wurde, standen viele Eltern dem neuen Medium kritisch gegenüber. Zahlreiche Entwicklerstudios reagierten mit kindgerechten Spielen ohne Gewaltdarstellungen. Dem Image von Computerspielen als Zeitverschwendung konnten sie damit jedoch wenig entgegensetzen. So entstand die Idee, Spiele für eine junge Zielgruppe zu entwickeln, die Lerninhalte vermitteln. Hierfür etablierte sich der Begriff “Edutainment”.
Im Verlauf der Jahre konnten zahlreiche Studios mit Edutainment-Software weltweite Erfolge verbuchen und damit zahlreiche Schulfächer abdecken: von Mathematik (“Math Blaster“, 1983) über Lesen und Schreiben (“Reader Rabbit“, 1984), Erdkunde (“Where in the World is Carmen Sandiego“, 1985) bis hin zum Zehnfingersystem auf der Tastatur (“Mario Teaches Typing“, 1991).
Edutainment wagt den Sprung in die Erwachsenenbildung: die frühen 2000er-Jahre
Anfang der 2000er-Jahre war die Digitalisierung so weit fortgeschritten, dass Computer und Spielekonsolen in fast allen Altersgruppen massiv an Beliebtheit gewannen. Die Entwickler von Edutainment-Software rückten daher auch in den Bereich der Erwachsenenbildung vor. Die erfolgreiche App “Dr. Kawashimas Gehirnjogging“ des japanischen Videospielherstellers Nintendo gehörte zu den erfolgreichsten Beispielen.
Gamification emanzipiert sich von seinen Edutainment-Wurzeln: die späten 2000er-Jahre
Mit der Verbreitung von Smartphones und Apps entwickelte sich Gamification zu einem allgemeinen Ansatz zur Förderung der Nutzerbindung auf Online-Plattformen. Als Vorreiter gilt die in Deutschland wenig bekannte Empfehlungs-App Foursquare, die 2009 erstmals veröffentlicht wurde.
Foursquare kombinierte standortbasierte Dienste mit spielerischen Elementen wie Badges und Bestenlisten zur Nutzerbindung. Die App ermöglichte es Nutzern erstmals, sich durch das Einchecken an verschiedenen Orten Belohnungen zu verdienen und ihren Punktestand mit Freunden zu vergleichen.
Quelle: YouTube / Pop10
Das sagt die Wissenschaft zur Zukunft von Gamification
Darüber, ob Nutzerinnen und Nutzer von Gamification wirklich profitieren, ist die wissenschaftliche Gemeinde noch gespalten. Vor allem Ian Bogost nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Schattenseiten von Gamification geht. Der US-amerikanische Videospieldesigner kritisiert gängige Gamification-Modelle als reine Ausnutzung von Suchtmechanismen aus Profitgier.
Allerdings ist Gamification noch ein junges Konzept – und könnte in Zukunft noch erheblich an Tiefe und Komplexität gewinnen. Zu den bekanntesten Befürworterinnen von Gamification zählt die US-amerikanische Spieldesignerin und Computerspielforscherin Jane McGonigal und hat der Thematik ihr Buch „Reality is Broken“ gewidmet.
Pro Gamification
In „Reality is Broken“ stellt Jane McGonigal die These auf, dass Spiele die Fähigkeit zur kreativen Problemlösung fördern und sogar soziale Bindungen stärken können. McGonigal betrachtet Gamification als Möglichkeit, die positiven Auswirkungen von Spielen auf das menschliche Wohlbefinden und die Gesellschaft zu übertragen.
Darüber hinaus schlägt McGonigal vor, reale Herausforderungen mithilfe von Spielprinzipien anzugehen – nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch im Gesundheitswesen und bei der Lösung sozialer Probleme. Mit dem Titel des Buchs weist McGonigal auf ihre These hin, dass die Realität im Vergleich zu Spielen weniger motivierend ist und zu langsames Feedback bietet – und durch Gamification nur gewinnen kann.
Kontra Gamification
Ian Bogost – Spieledesigner und Professor an der Washingon University in St. Louis, argumentiert, dass Gamification oft die komplexen Abläufe menschlicher Motivation vereinfacht und Interaktion auf Suchtmechaniken wie das bloße Sammeln von Punkten und Belohnungen reduziert.
Bogost prägte den Begriff „Exploitationware“ und betont, dass Gamification Nutzende oft durch oberflächliche Belohnungen ausbeutet, anstatt echtes Engagement zu fördern. Er kritisiert, dass Gamification komplexe Spielprinzipien auf einfache Punktesysteme reduziert und selbstbestimmte Motivation untergräbt. Das wahre Potenzial von Spielemechaniken, so Bogost, werde hierdurch nicht ausgeschöpft.