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Grüne Hölle: Guerilla-Trauma im Vietnamkrieg

Foto: Imago / ZUMA Press

Grüne Hölle: Guerilla-Trauma im Vietnamkrieg

In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1968 startete Nordvietnam mit seinen Guerillatruppen einen landesweiten Überraschungsangriff, die sogenannte Tet-Offensive. Die Attacke führte der US-Armee ihre prekäre Lage unmissverständlich vor Augen.

Die Bilder schockieren die amerikanische Bevölkerung zuhause vor den Fernsehern: Die Guerillakämpfer des Vietcong scheinen die US-Truppen in ganz Vietnam zu überrennen. Nordvietnam startet in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1968 eine Offensive, wie sie niemand für möglich gehalten hätte. Fünf der sechs größten Städte greifen die Guerillas an.

Dabei hatte Nordvietnam zum Neujahrsfest Tết Nguyên Đán eine Waffenruhe mit dem Süden vereinbart. Große Teile des südvietnamesischen Militärs sind im Urlaub, um das wichtigste Fest des Jahres zu feiern. Die Vietcong greifen auch Saigon an: Die Hauptstadt des Südens ist voller Reporter, die erschütternde Bilder liefern. Bilder, die bis heute für den Wendepunkt des Vietnamkrieges stehen.

Nicht weil sie die militärische Überlegenheit der Amerikaner zeigen, sondern weil sie die grausame Fratze des Krieges enthüllen: Das berühmteste Bild der Schlacht um Saigon zeigt, wie der Polizeichef der Stadt, General Nguyen-Ngoc Loan, Selbstjustiz übt und einen gefangenen Vietcong auf offener Straße erschießt.

Solche Bilder sind auch für den schwindenden Rückhalt der US-Truppen zuhause verantwortlich. Weitere werden im späteren Kriegsverlauf hinzukommen: so auch das wohl berühmteste Foto des Krieges – das vom „Napalm Girl“(Bild): Der Angriff mit Napalm-Bomben auf das Dorf Trang Bang im Juni 1972 trifft auch Kim Phuc. Das neunjährige Mädchen läuft auf dem verstörenden Bild schreiend und nackt aus seinem Dorf, das unmittelbar zuvor von südvietnamesischen Flugzeugen mit den heimtückischen Brandbomben angegriffen wurde.

Ein Konflikt eskaliert

Doch warum sind die Amerikaner überhaupt in Vietnam? Nach Ende des zweiten Weltkriegs sehen sich die USA gezwungen, die Ausbreitung des Kommunismus weltweit einzudämmen. Zu diesem Zweck finanzieren sie Frankreichs Krieg in Indochina, mit dem es seine Stellung als Kolonialmacht wiederherstellen will. Nachdem Frankreich den Krieg um seine Vormachtstellung verloren hat, kommt es in Genf zur „Fernost-Konferenz“, in der Vietnam aufgeteilt wird – die Grenze ist der 17. Breitengrad.

Um dem kommunistischen Nordvietnam Paroli zu bieten, unterstützen die USA fortan die südvietnamesische Regierung. Die Angst, dass sich der Kommunismus in Asien weiter ausbreitet, wächst. Als nordvietnamesische Patrouillenboote im August 1964 einen amerikanischen Zerstörer angreifen, eskaliert der Konflikt.

Amerikanische Kampflugzeuge fliegen als Antwort Angriffe gegen den Norden. Ein zweiter Angriff der Nordvietnamesen wird fingiert, um den Einmarsch amerikanischer Truppen in Südvietnam zu rechtfertigen. Welche „Strippenzieher“ bei dieser Falschinformation ihre Finger im Spiel haben, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Am 8. März 1965 landen die ersten US-Truppen in Vietnam. Bis zum Ende des Jahres befinden sich 100.000 GIs im Land. Als die Tet-Offensive, die nach dem Neujahrsfest benannt wurde, ins Rollen kommt, ist die US-Präsenz 550.000 Mann stark.

Bis dahin fanden die Kampfhandlungen weiter im Norden statt – im Dschungel, auf Feldern, in Dörfern. Die Zuschauer am Fernseher bekommen meist aber nur Luftaufnahmen oder entschärfte Bilder zu sehen, die die wahren Gräuel des Krieges nicht in ihrer vollen Grausamkeit zeigen. Währenddessen sieht die Realität anders aus: die Nordvietnamesen zermürben die Amerikaner während des gesamten Krieges immer wieder mit Angriffen aus dem Hinterhalt.

Die Guerillatruppen lassen sich nicht auf die Kriegsführung ein, die die US-Truppen am liebsten anwenden würden: Eine offene Schlacht auf freiem Gelände vermeiden sie, wo es nur geht. Stattdessen versetzen sie dem Feind immer wieder kleine Nadelstiche. Die Amerikaner sollen sich nicht sicher fühlen – zu keiner Zeit. Dafür sorgen auch Sprengfallen – die berüchtigten „Booby Traps“. Hinter jedem Busch, jedem Baum könnte die nächste Falle lauern.

David gegen Goliath

Mit der Tet-Offensive kommt der Krieg nun aber auch nach Südvietnam – und damit auch in die Städte. Die Angreifer tragen den Krieg direkt zu den Berichterstattern. Es kommt zu einem Kampf, der auch Saigon, die Hauptstadt des Südens, nicht verschont.

Dass die Guerillatruppen sogar bis zur amerikanischen Botschaft vordringen können, hatte bis zu diesem Zeitpunkt niemand für möglich gehalten. Die Amerikaner erobern die Botschaft und die Stadt innerhalb weniger Stunden zurück. Dennoch ist das Selbstmordkommando der Nordvietnamesen erfolgreich: Die 19 Angreifer haben dafür gesorgt, dass die USA verletzlich aussehen, die in den Medien gezeigte Fassade der Übermacht ist beschädigt.

Häuserkampf in Saigon

Die Tet-Offensive schockiert die Amerikaner dermaßen, dass sie beginnen zu hinterfragen, worauf sie sich mit diesem Krieg eingelassen haben. Der militärischen Übermacht der USA stehen Guerillas und schlecht ausgerüstete reguläre Truppen gegenüber. Doch die Häuser der umkämpften Städte bieten gute Deckung. Dass sie in Vietnam einen Häuserkampf führen müssen, hatte fast keiner der amerikanischen Soldaten gedacht.

Der Kampf um jedes Haus und jeden Raum ist nicht mit einer Schlacht im offenen Feld zu vergleichen, in dem die GIs fast jederzeit Luft- oder Artillerieunterstützung anfordern können. Militärisch ist der Überraschungsangriff für Nordvietnam ein Desaster: Bei den Kampfhandlungen bis Ende September 1968 sterben schätzungsweise zwischen 50.000 und 100.000 Guerillas und reguläre Truppen des Nordens. Die Amerikaner sehen bei der Offensive fast wehrlos aus.

Wie kann sich die Supermacht so weit hinter der Front angreifen lassen? Spätestens nach der Tet-Offensive ist jedem klar: Es gibt keine Front in diesem Krieg, der so schonungslos auch in den Dörfern und unter der Zivilbevölkerung geführt wird. Präsident Lyndon B. Johnson gibt dem Druck seiner politischen Opposition nach und verzichtet wenig später auf eine zweite Kandidatur für die Präsidentschaft.

Der Krieg nimmt immer grausamere Dimensionen an: Nordvietnams Truppen und Guerillas führen „Schwarze Listen“, mit denen sie Verräter identifizieren: Politische Gegner und Intellektuelle werden brutal ermordet. Auch auf amerikanischer Seite ändert sich die Vorgehensweise.

General Westmoreland, der Oberkommandierende der US-Truppen, gibt seinen Soldaten grünes Licht, nach eigenem Ermessen bei Kampfhandlungen vorzugehen: Dörfer, die als Rückzugspunkt des Vietcong gelten, dürfen nun ohne Rücksprache mit den Vorgesetzten angegriffen und zerstört werden. Von diesen Todesschwadronen geht blanker Terror aus: Sie lassen ihrer angestauten Wut freien Lauf. Dafür belangt werden nur die wenigsten.

Eskalation der Grausamkeit

Die Truppenführer haben freie Hand: Jeder vermeintliche Gegner wird sozusagen zum Abschuss freigegeben. Ob darunter Zivilisten – auch Frauen, Kinder und Senioren – sind, spielt oft keine Rolle. Die Task Force Barker wird zum traurigen Paradebeispiel für das Vorgehen: Bis zu 520 Zivilisten sterben beim Angriff der Truppe auf My Lai. Grund für den Einmarsch sind zehn Vietcong-Kämpfer, die die GIs zuvor entdeckt haben.

Der Journalist Seymour Hersh deckt das Massaker auf. Seine Geschichte wird von den Medien aber zuerst abgelehnt. Niemand will sich daran die Finger verbrennen. Generell zeigen sich die US-Medien zurückhaltend, was negative Berichterstattung über den Krieg betrifft. Vielmehr stellen sie sich hinter die „Notwendigkeit“, den „Dominostein Vietnam“ vor dem Umfallen zu bewahren. Die Theorie, dass die Freiheit Amerikas in Vietnam verteidigt wurde, hält sich bei den Anti-Kommunisten bis heute.

Nixons Programm der „Vietnamization“

Im Januar 1969 wird Richard Nixon ins Amt des Präsidenten gewählt. Sein Programm der „Vietnamization“ sieht vor, dass sich die amerikanischen Truppen nach und nach zurückziehen und den Südvietnamesen das Feld überlassen. Die Hilfe für diese soll im Gegenzug weiter ausgebaut werden. Im Juli des gleichen Jahres ziehen die ersten Truppen aus Vietnam ab. Bis zum Frieden dauert es aber noch: So beginnen die USA 1970 mit der Bombardierung Kambodschas und Laos.

Der Grund: Nordvietnam versorgt seine Kämpfer über den Ho-Chi-Minh-Pfad mit Nachschub. Dieser verläuft teilweise auch durch diese beiden Länder, die dadurch auch zum Ziel flächendeckender Bombardements der Amerikaner werden. Es kommt zur bis dahin größten Antikriegsdemonstration an der Kent State Universität, hier erschießt die Nationalgarde vier Studenten.

Mit dem „Weihnachtsborbardement“ im Dezember 1972 werfen die USA nochmals mehr Bomben über Nordvietnam ab als zuvor: Ein letzter verzweifelter Akt, ehe die Friedensgespräche in Paris im Januar 1973 endlich den Frieden bringen – zumindest für die Amerikaner. Die Präsenz der USA in Südvietnam bleibt aber bis 1975 bestehen. Am 29. März verlassen die letzten US-Truppen das Land – offiziell.

Keine Paraden für die Heimkehrer

Als die US-Truppen nach Hause kehren, gibt es keine Paraden, niemand jubelt – niemand feiert die Heimkehrer als Helden, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Viele Soldaten haben nach dem Krieg Probleme, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Nicht selten flüchten sie in Alkoholismus und Drogenabhängigkeit – falls sie nicht bereits in Vietnam den Versuchungen der Scheinwelt erlegen sind, die die Grausamkeit dieses Krieges zu mindern versprachen.

Für die Amerikaner ist der Krieg vorbei, in Vietnam beginnt die kommunistische „Umerziehung“ Südvietnams durch Lager oder Umsiedlungen. Es kommt zu Flüchtlingsströmen, bei denen bis 1990 über 150.000 Vietnamesen bei dem Versuch sterben, über das Meer zu entkommen.

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