Wie blickt man in die Seele eines Mörders? Indem man ihn reden lässt! In der Crime-Serie „Mindhunter“ interviewen zwei FBI-Agenten inhaftierte Serienkiller und erfinden so das moderne Profiling. Das Besondere am Netflix-Hit: Nicht nur die Mörder hat es wirklich gegeben, auch die Ermittler haben reale Vorbilder. wdw erzählt ihre Geschichte …
Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man fast meinen, dieser Ed Kemper sei ein netter Kerl. Immer wieder ertappen sich die beiden FBI-Agenten John Douglas und Robert Ressler dabei, wie sie während der Gespräche mit dem 2,06-Meter-Hünen kurzzeitig vergessen, dass sie gerade einem Serienkiller gegenübersitzen. Einem Mann, der acht Frauen getötet und zerstückelt hat – darunter seine Mutter und seine Großmutter. Dennoch schreibt Douglas später in einem seiner Bücher über Kemper: „Er war freundlich, offen, empfindsam und hatte viel Humor“. Ressler dagegen wird bald klar, welcher Wahnsinn in dem Mann schlummert – weil er einen fatalen Fehler macht und zu seinem dritten Besuch bei Kemper, der seine Zeit in einem kalifornischen Gefängnis absitzt, ohne Partner erscheint. Als die Befragung zu Ende ist, drückt der FBI-Agent den Summer, damit die Wachen die Tür öffnen, doch nichts passiert. Er drückt noch einmal – keine Reaktion. Ressler spürt Kempers bohrenden Blick, Panik steigt in ihm auf. „Was wäre, wenn ich jetzt durchdrehen würde?“, fragt ihn der Killer feixend. „Ich könnte Ihnen den Kopf abreißen – nur so zum Spaß – und ihn für den Wärter auf den Tisch stellen.“ Als kurz darauf endlich die Tür geöffnet wird, legt Edward Kemper Ressler die Hand auf die Schulter und haucht ihm ins Ohr: „Sie wissen, dass ich Sie nur auf dem Arm genommen habe, oder?“ Ressler nickt stumm und verlässt eilig die Zelle. Er beschließt, nie wieder allein zu einer Befragung zu gehen …
Wie zwei Cops die Kriminalwissenschaft revolutionierten
Schon früh fasziniert Robert Ressler die Frage, was einen Mörder antreibt – doch erst im Jahr 1970 erhält er die Chance, ihr mit wissenschaftlichen Methoden nachzugehen. Damals wechselt der Bundespolizist nach Quantico, Virginia, in die sogenannte Behavioral Science Unit des FBI, eine neu geschaffene Abteilung für Verhaltensforschung, und trifft dort auf seinen kongenialen Partner: John Douglas. Genau wie in der Netflix-Serie „Mindhunter“ beginnen die beiden damit, in einem fensterlosen Keller Hunderte von Lustmorden zu analysieren und psychologische Profile von gewalttätigen Serientätern zu erstellen, um eine Art Landkarte ihres Denkens zu entwerfen. Was treibt jemanden dazu, 71-mal auf einen Menschen einzustechen oder das Blut seines Opfers zu trinken? Douglas und Ressler stellen Kollegen und Psychiatern diese Fragen – und ernten nur Achselzucken, da es keinerlei wissenschaftliche Studien zu diesem Thema gibt. Die beiden Ermittler beschließen deshalb, diejenigen zu fragen, die es am besten wissen müssen – die Serienmörder selbst.
Wie sieht das typische Charakterprofil eines Killers aus?
Douglas und Ressler beginnen durch die Staaten zu touren, um die Verbrecher in den Gefängnissen persönlich zu interviewen. Ed Kemper ist einer ihrer ersten Gesprächspartner, später kommen weitere legendäre Kriminelle wie Charles Manson und Ted Bundy dazu. Das Verblüffende: Die Serientäter erweisen sich als erstaunlich kooperativ. „Viele hatten anscheinend Langeweile oder freuten sich, die für sie aufregendsten Momente ihres Lebens noch einmal in Gedanken erleben zu können“, so Ressler. Die anhand der Gespräche erstellten Profile helfen den Agenten, nach wiederkehrenden Mustern zu suchen: Ist die Tötungsart immer dieselbe? Gleichen sich die Opfer in Alter, Aussehen und Geschlecht? Gibt es Parallelen in den Lebensläufen der Killer? Tatsächlich kristallisieren sich bald typische Merkmale heraus: Die meisten Triebtäter sind 20 bis 40 Jahre alt, weiß, intelligent. Sie arbeiten als Wachmann oder Warenhausdetektiv und stammen häufig aus kaputten familiären Verhältnissen. Viele starten ihre „Laufbahn“ mit Grausamkeiten an kleinen Tieren. Später führen sie jedoch ein unauffälliges Leben, sind verheiratet und haben Kinder. Immer wieder fällt der Satz: „Dem hätten wir so etwas nie zugetraut.“ Außerdem fällt auf, dass die Killer „nach der Tat gern eine ‚Trophäe‘ mitnehmen, etwa einen Ring oder eine Kette des Opfers“, so Douglas. „Auch kehren viele an den Ort des Verbrechens zurück, um die Erregung noch einmal zu durchleben.“ Aufgrund ihrer Expertise werden die „Mindhunter“ fortan auch bei laufenden Täterfahndungen zu Rate gezogen. So erstellt Douglas beispielsweise ein Täterprofil des sogenannten „Unabombers“, eines Terroristen, der ab 1978 die USA mit einer Serie von Briefbombenanschlägen auf Universitäten und Fluglinien in Atem hält. Douglas spricht von einem hochintelligenten Eigenbrötler – eine Beschreibung, die perfekt auf den später gefassten Mathematik-Professor Ted Kaczynski zutrifft.
Doch die Arbeit geht nicht spurlos an den Cops vorbei: Während einer Ermittlung erkrankt Douglas an einer lebensgefährlichen Gehirnentzündung, 1995 quittiert er ausgebrannt den Dienst. Ressler wird dagegen bei jedem neuen Fall zunehmend von der Angst begleitet, etwas erblicken zu müssen, „das schlimmer ist als alles, was ich bis dahin gesehen habe“. Doch trotz aller körperlichen und seelischen Narben lässt die Faszination für die Abgründe der menschlichen Seele die beiden nicht los. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst gibt Ressler sein Fachwissen auf der FBI-Akademie weiter, er hilft u. a. Thomas Harris beim Schreiben des Kultthrillers „Das Schweigen der Lämmer“ und arbeitet noch bis zu seinem Tod 2013 als Kriminologe. John Douglas publiziert zahlreiche Sachbücher und berät bis heute Polizeidienststellen auf der ganzen Welt bei der Tätersuche. So wie die Killer immer weiter morden müssen, kann auch er nicht aufhören, sie zu jagen. Getreu der Devise: Einmal Mindhunter, immer Mindhunter.