„Eine Epidemie, die erst beginnt“
Eine Titelgeschichte im Spiegel vom 6. Juni 1983 schreckte die Deutschen hoch: Unter der Überschrift „AIDS: Eine Epidemie, die erst beginnt“ berichtete das Nachrichtenmagazin über eine mysteriöse „Schwulenkrankheit“, deren Ursache man nicht kenne, die aber in Deutschland bereits über 100 Patienten dahingerafft habe. Zitate aus dem Buch „Die Pest“ von Albert Camus schmückten den Artikel aus, der ein düsteres Bild der Immunschwächekrankheit zeichnete – und das durchaus berechtigt, damals war so gut wie nichts über die Krankheit bekannt.
Kein Hinweis auf Schutz durch Kondome
Erste Berichte über infizierte Frauen und Kinder zeigten zwar bereits, dass es sich um keine reine Homosexuellen-Krankheit handeln kann. Doch ein Hinweis auf möglichen Schutz durch Kondome fehlte komplett in dem Spiegel-Bericht. Das Wissen darüber war schlichtweg noch nicht vorhanden. Heute kennen wir sowohl den Auslöser, das HI-Virus, als auch die Übertragungswege. Auch wissen wir genau, wie wir uns schützen können und haben mittlerweile ein ganzes Arsenal an Medikamenten entwickelt, mit denen HIV-Infizierte ein langes Leben führen können. Doch bis dahin war es ein langer Weg…
Die ersten Fälle
Schon seit den sechziger Jahren wurden die Erkrankungen einiger Patienten dokumentiert, die heute als erste HIV-Fälle eingestuft werden. Ein US-amerikanischer Teenager wurde 1968 mit stark geschwollenen Lymphknoten, Warzen und einer Chlamydieninfektion ins Krankenhaus gebracht, er starb knapp ein Jahr später nachdem die Zahl seiner weißen Blutkörperchen sich gefährlich reduziert hatte. Eine dänische Chirurgin steckte sich vermutlich während ihrer Arbeit im Kongo an und starb 1977. Dass auch sie mit dem HI-Virus (Bild) infiziert war, konnte erst 1984 bestätigt werden.
Eine Nebenwirkung von Drogen?
Juni 1981: Die US-Gesundheitsbehörde veröffentlicht einen Bericht zu einer rätselhaften Krankheit. Fünf Männer sind von einem Pilz in der Lunge befallen. Die Männer leben in Los Angeles, sind zwischen 29 und 36 Jahren alt und homosexuell. Die Patienten hatten keinen sexuellen Kontakt miteinander, tatsächlich kennen sie sich nicht einmal. Alle fünf geben an, gelegentlich Haschisch zu rauchen. Das US Center for Disease Control and Prevention (CDC) vermutet, dass der Pilz über kontaminierte Marihuanapflanzen verbreitet wurde.
Eine Krankheit mit vielen Gesichtern
Nur 18 Monate später hat die Zahl der infizierten Personen dramatisch zugenommen. Immer noch sind hauptsächlich homosexuelle Männer betroffen, allerdings konsumieren nicht alle von ihnen Drogen. Wissenschaftler gehen nun davon aus, dass es sich bei dem mysteriösen Krankheitsbild um eine neue Geschlechtskrankheit handelt. Die Palette der Symptome ist vielfältig: Bis dato kerngesunde, junge Männer in Kalifornien erkranken plötzlich an dem Kaposi-Sarkom, einer bis dahin sehr seltenen Form von Hautkrebs, die fast ausschließlich in Südeuropa auftrat. Normalerweise harmlose Bakterien und Viruserkrankungen zerstören den Körper, das Immunsystem scheint komplett ausgeschaltet. Die Krankheit erhält ihren ersten Namen: GRID – gay-related immune deficiency (zu Deutsch: homosexuell-bedingte Immunschwäche).
Patient Null
Gaetan Dugas war ein kanadischer Flugbegleiter, der nach eigenen Angaben zwischen 1972 und 1984 Sexualkontakte mit über 2500 Männern hatte. Er wurde später als Patient Null bezeichnet, also als Ursprung der tödlichen Infektionskrankheit. Tatsächlich lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren, woher HIV stammt und wann es zu einer weltweiten Epidemie wurde. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Dugas sich in den Siebzigerjahren in Afrika mit dem Virus infizierte und aufgrund seiner hohen sexuellen Aktivität und seiner berufsbedingten Reisen in die Metropolen London, Paris, Los Angeles, New York und San Francisco brachte. 1980 wurde bei ihm ein Kaposi-Sarkom diagnostiziert und schon damals warnten Ärzte, dass die damals als Schwulenkrebs bezeichnete Krankheit möglicherweise ansteckend ist. Dugas informierte seine Partner zwar über seine Infektion, schützte sie aber nicht durch den Gebrauch von Kondomen. 1984 starb er an Nierenversagen.
Die „4-H-Krankheit“
Schon bald stellten die US-Gesundheitsbehörden fest, dass das HI-Virus sich nicht auf Homosexuelle (homosexuals) reduzieren lässt. Bluter (hemophiles), die häufig Blutspenden erhielten, waren häufig betroffen, ebenso Heroinabhängige (heroine addicts) und Einwanderer aus Haiti (haitians). Die Krankheit erhält daher einen neuen Namen: 4-H-Krankheit. Wie genau sie sich überträgt ist jedoch immer noch unklar.
Der Durchbruch
1983 identifizierte der französische Virologe Luc Montagnier (Bild) gemeinsam mit seiner Kollegin Francoise Barré-Sinoussi erstmals das Virus, das für die schleichende Immunschwächekrankheit verantwortlich ist. Nur ein Jahr später gelingt dem Amerikaner Robert Gallo derselbe Durchbruch. 1986 erhält es die Bezeichnung, die es heute noch trägt: Humanes Immundefizienz-Virus (HIV). Außerdem steht nun fest, wie sich die gefürchtete Krankheit überträgt: Blut und Sperma von Betroffenen sind infektiös. Blutspenden müssen fortan auf HIV getestet werden, Aufklärungskampagnen informieren die Bevölkerung über den richtigen Schutz mit Kondomen. 2008 erhalten Montagnier und Barré-Sinoussi für ihre Forschung den Medizin-Nobelpreis.
Prominenz schützt nicht
HIV bleibt keine „Randgruppenkrankheit“ – im Laufe der Achtzigerjahre werden immer mehr Fälle prominenter Betroffener bekannt. So stirbt 1985 der Schauspieler Rock Hudson an den Folgen des Virus, er war vor allem mit Rollen als smarter Frauenheld bekannt. 1991 sterben der deutsche Tennisspieler Michael Westphal und der Sänger der Rockband Queen, Freddie Mercury (Bild). Durch die Fälle steigt zwar die Angst vor HIV; zugleich rückt die Erkrankung Prominenter aber auch die Tatsache ins Bewusstsein, dass HIV und AIDS kein Phänomen allein unter Homosexuellen oder Drogenabhängigen ist.
HIV: ein globales Problem
Zwischen Beginn der Forschung 1981 und heute sind weit über 42 Millionen Menschen weltweit an den Folgen einer HIV-Infektion gestorben. 88 Millionen Menschen wurden infiziert, davon knapp 96,700 in Deutschland. Obwohl seit Jahrzehnten Aufklärung zur Vorbeugung des Virus betrieben wird, sind Vorurteile gegenüber Infizierten und Fehlinformationen immer noch weitverbreitet.
Forschung ist alles
Auch wenn man AIDS bis heute nicht heilen kann und auch gegen die Infektion mit HIV nach wie vor keine Impfungen existieren – Fortschritte in der Bekämpfung gibt es trotzdem immer wieder zu vermelden. Ein Beispiel ist das Medikament Truvada, das 2012 Jahr in den USA zur Vorbeugung für HIV-Negative zugelassen wurde. Es reduziert die Ansteckungsgefahr mit dem HI-Virus deutlich – bei heterosexuellen Geschlechtspartnern um bis zu 75 Prozent. Das zeigt, wie wichtig die medizinische Forschung für den Kampf gegen AIDS nach wie vor ist. Als jüngster Durchbruch gilt die Lenacapavir-Spritze, die mit 100 % Effektivität vor einer HIV-Ansteckung schützen soll und im Juli 2024 auf der Welt-Aids-Konferenz vorgestellt wurde.
AIDS ist nicht besiegt!
Am Welt-AIDS-Tag wird seit dem Jahr 1988 jährlich am 1. Dezember weltweit an die schwere Immunschwächekrankheit erinnert, die durch das HI-Virus ausgelöst wird. Und das scheint auch heute, mehr als 30 Jahre nach der ersten offiziellen Erwähnung der damals noch namenlosen Erkrankung, dringend nötig: Entgegen aller Hoffnungen der letzten Jahrzehnte ist AIDS nämlich nach wie vor nicht besiegt - im Gegenteil, gerade bei uns in Mittel- und Westeuropa steigt die Zahl der mit HIV infizierten Menschen seit beinahe zehn Jahren wieder kontinuierlich an. Der Grund ist eigentlich ein positiver: Die Medikamente zur Behandlung von HIV-Infektionen werden immer besser und die Überlebensraten steigen. Gleichzeitig zeigt die Zunahme der Infizierten auch, dass die Angst vor der Krankheit gesunken ist: Galt eine HIV-Infektion früher als Todesurteil, kann ein Erkrankter bei angemessener Behandlung heute durchaus das Rentenalter erreichen.
Lasst Euch testen!
Für das Jahr 2023 schätzt das Robert-Koch-Institut die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland auf 2200, das sind 200 mehr als im Jahr 2022. In Deutschland leben schätzungsweise 96.700 Menschen mit einer HIV-Infektion – davon etwa 8200, ohne es zu wissen.