„Snow Crash“ entwirft ein düsteres Bild von der nicht zu nahen Zukunft
„Snow Crash“ ist eine Science-Fiction-Dystopie, die in der nahen Zukunft in Los Angeles spielt. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, scheint in Trümmern zu liegen. Der amerikanische Staatsapparat existiert praktisch nicht mehr. So gut wie alle Bereiche des täglichen Lebens, die früher in staatlicher Hand waren, sind privatisiert: von der Polizei bis zum Rechtssystem, von den Bildungseinrichtungen bis zum Straßennetz.
Traditionelle Gesetze, die für alle Bürger des Landes gelten, gibt es überhaupt nicht mehr. Große Firmenkonglomerate haben die Macht an sich gerissen. Sie haben ihre eigenen Gerichte, Anwälte und Strafverfolgungsbehörden. Sogar die Mafia mischt jetzt als finanzstarkes, einflussreiches Unternehmen in der Öffentlichkeit mit.
Diese Entwicklungen führen zu massiver sozialer Ungleichheit, Gewalt und Kriminalität sind allgegenwärtig. Wer es sich leisten kann, lebt in einer Burbklave, abgeleitet von dem Begriff „suburban enclave“. Burbklaven sind Miniaturstaaten mit eigener Gesellschaft, eigener Währung, eigenem Rechtssystem. Wer nicht über das nötige Kleingeld verfügt, muss sehen, wo er bleibt und in heruntergekommenen Wohngebieten sein Dasein fristen.
Ein ungleiches Heldenduo muss sich in einer feindlichen Welt behaupten
Inmitten dieses Chaos müssen sich die Hauptfiguren des Romans, der 30-jährige Hiroaki (Hiro) Protagonist und die 15-jährige Y. T., über Wasser halten. Hiro ist Hacker, Informationshändler und der beste Schwertkämpfer im Metaverse. Y. T. ist Kurierfahrerin und verlässt sich dabei auf ihr Hightech-Skateboard. Y. T.s Mutter arbeitet für die Regierung – oder was davon übrig ist.
Das Metaverse als vorübergehender Ausweg aus der bedrückenden Realität
Ablenkung von dieser tristen Welt bietet das Metaverse, eine virtuelle Flaniermeile („Die Straße“ genannt) mit virtuellen Gebäuden und Portalen zu anderen virtuellen Welten. Im Metaverse ist es immer Nacht und „Die Straße“ erstrahlt in bunten Neonfarben. Metaverse-Nutzer haben vielfältige Möglichkeiten, ihren Avatar zu gestalten und können aus einem reichhaltigen Angebot an virtuellen Treffpunkten und Aufenthaltsorten wählen.
Aber auch hier offenbart „Snow Crash“ seine düstere Zukunftsperspektive. Das Metaverse ist inzwischen durch und durch kommerzialisiert. Überall sind virtuelle Werbetafeln zu sehen. Zudem kann sich nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung den Zugang zum Metaverse über spezielle Terminals oder Datenbrillen überhaupt leisten.
Der titelgebende „Snow Crash“ ist ein brandgefährliches Computervirus
Im fünften Kapitel stößt Hiro auf den titelgebenden „Snow Crash“ – ein Computervirus, das auch Menschen befällt. Um sich zu infizieren, genügt es, im Metaverse eine manipulierte Grafikdatei zu betrachten. Hiros Freund Da5id ist unvorsichtig und wird Opfer des Virus. Zuerst stürzt sein Avatar ab, kurz darauf fällt Da5id in einen komaähnlichen Zustand.
Die direkte Inspiration für den Namen des Virus sind die frühen Macintosh-Computer. Stürzte deren Betriebssystem ab, erschien gelegentlich ein schneeähnliches Muster auf dem Bildschirm – ähnlich dem weißen Rauschen eines Fernsehers ohne Empfang. Durch das neue Virus ist das Metaverse zu einem gefährlichen Ort geworden und Hiro beschließt, etwas dagegen zu unternehmen. Die auf seine Entscheidung folgenden Abenteuer spielen teils im Metaverse, teils im realen Leben.
Hier war Neal Stephenson visionär
Stephensons Beschreibung des Metaverse besticht durch viel Kreativität, Spannung und Atmosphäre. Der Leser erkennt schnell, dass sich erstaunlich viel von seiner Vision aus dem Jahr 1992 in heutigen Metaverse-Plattformen wiederfindet. Die Tatsache, dass die Online-Welt zur Entstehungszeit von „Snow Crash“ noch in den Kinderschuhen steckte, macht Stephensons Gespür für den Zeitgeist umso beeindruckender.
1. Das Grundprinzip des Metaverse in „Snow Crash“ unterscheidet sich kaum von unserer heutigen Vision
Metaverse-Nutzer können in „Snow Crash“ mit einem frei gestaltbaren Avatar die virtuelle Welt erkunden. Das Metaverse ist eine Online-Welt, deren Struktur dem Internet ähnelt, das wir heute kennen. Sie ist jedoch dreidimensional und besteht aus realistisch gestalteten Gebäuden und Landschaften.
Abstrakte virtuelle Einrichtungen des Internets wie Chatrooms und Homepages werden durch realistisch modellierte Gebäude und Einrichtungen repräsentiert – ähnlich wie in zahlreichen aktuellen Metaverse-Plattformen. Stephensons Vision für das Metaverse als Nachfolger des zweidimensionalen Internets ist somit bis heute aktuell geblieben.
2. In „Snow Crash“ kommen bereits personalisierbare Avatare vor
Wer einen besonders aufwendig gestalteten Avatar sein Eigen nennen möchte, aber nicht über die nötigen Programmierkenntnisse verfügt, kann in „Snow Crash“ seinen Avatar für gutes Geld aufrüsten lassen. Damit nahm Stephenson virtuelle Kleidung und Accessoires für Avatare vorweg, die heute auf 3D-Plattformen wie Fortnite, Decentraland und Sandbox gang und gäbe sind.
3. Ähnlich wie in „Snow Crash“ können wir heute virtuelles Land kaufen
Wie in vielen aktuellen Metaverse-Plattformen ist es auch in dem in „Snow Crash“ beschriebenen Metaverse bereits möglich, virtuelles Land und virtuelle Immobilien zu erwerben. Allerdings sind die Preise dafür in „Snow Crash“ schwindelerregend hoch, wie Hiro berichtet.
4. Das Metaverse in „Snow Crash“ dient in erster Linie sozialer Interaktion
In „Snow Crash“ steht im Metaverse der soziale Austausch im Vordergrund – dasselbe gilt für zahlreiche aktuelle Metaverse Plattformen. Das Metaverse in „Snow Crash“ ist zu einem großen Teil ein sozialer Treffpunkt mit zahlreichen virtuellen Clubs und anderen Locations. Stephenson ließ sich dabei vermutlich von den frühen Internetforen und Chatrooms inspirieren.
5. „Snow Crash“ nahm das bekannte Avatar-Baukastensystem vorweg
Die Avatare in „Snow Crash” basieren auf zwei Grundmodellen, die vielseitig anpassbar sind. Sie werden „Brandy“ und „Clint“ genannt. Dieses modulare Konzept ist in zahlreichen Metaverse-Plattformen mit anpassbaren Avataren bis heute gebräuchlich.
6. Die Metaverse-Kampfsequenzen von „Snow Crash“ erinnern an moderne Online-Spiele
Im Metaverse von „Snow Crash“ gibt es auch Kämpfe – Hiro Protagonist trägt sie vorzugsweise mit seinen beiden Samuraischwertern aus. Wer verliert, wird vorübergehend aus dem Metaverse geworfen. In aktuellen Online-Actionspielen wie Fortnite oder PUBG: Battlegrounds gibt es sehr ähnliche Abläufe.
Hier sind wir Stephenson heute voraus
1. Der Umfang des Metaverse in „Snow Crash“ ist begrenzt
In „Snow Crash“ hat das Metaverse theoretisch eine maximale Größe. „Die Straße“, der zentrale Knotenpunkt des Metaverse, hat eine Länge von 65.536 Kilometern. Zudem kann die „Straße“ nur eine maximale Anzahl von Avataren aufnehmen.
Die Zahl 65.536 dürfte Programmier-Gurus bekannt vorkommen: Sie steht für die maximale Anzahl eindeutiger Werte, die in einer 16-Bit Binärzahl gespeichert werden können.
Solche technologischen Einschränkungen tragen einerseits zum Hacker-Flair des Romans bei. Andererseits wirken sie in der heutigen Zeit, in der virtuelle Welten theoretisch unendlich groß werden können – z. B. durch prozedurale Generierung –, nicht mehr ganz zeitgemäß.
2. Metaverse-Nutzer mit schlechter Datenverbindung sind optisch erkennbar
In „Snow Crash“ sieht man einem Avatar an, dass er eine schlechte Verbindung zum Metaverse hat. Er erscheint dann grob aufgelöst oder im schlimmsten Fall schwarzweiß.
Dies ist zwar ein wirkungsvoller Kniff, um die Zweiklassengesellschaft im Metaverse in „Snow Crash“ zu unterstreichen. Realistisch ist er aber kaum. Schließlich sind für die Darstellung von Avataren in der Regel Prozessor und Grafikkarte des mit dem Netz verbundenen Endgeräts verantwortlich.
Schon seit Jahrzehnten verraten sich Teilnehmer mit schlechter Internetverbindung auf Online-3D-Plattformen meist nur durch ruckelige, sprunghafte Bewegungen. Das rührt daher, dass der geringe Datendurchsatz ihre Positionierung durch die 3D-Engine erschwert.
3. Auch das Metaverse ist in „Snow Crash“ eine dystopische Welt
Snow Crash entfernt sich auch in der Darstellung des Metaverse nie weit von seinen dystopischen Wurzeln. So ist die soziale Ungleichheit von Stephensons Zukunftsvision auch im Metaverse spürbar.
Wie die reale Welt in „Snow Crash“ wird auch das Metaverse im Roman von großen Firmenkonglomeraten kontrolliert. Aktuelle Konzepte setzen dagegen klar auf eine dezentrale Organisation des Metaverse, die eine ebensolche Entwicklung verhindern soll.
Auch hier hatte Stephenson den richtigen Riecher
- Die virtuelle Erdkugel von Hiroaki Protagonist in seinem Büro im Metaverse soll eine direkte Inspiration für Google Earth gewesen sein.
- In „Snow Crash“ gibt es mobiles Internet über Funk. Die Charaktere können sich über Funkfrequenzen mit dem Metaverse verbinden. Dabei weist Hiro darauf hin, dass dies zu einer schlechteren Verbindungsqualität führt – ein Phänomen, das wir heute nur zu gut kennen.
- Hiros nahezu allwissender virtueller Bibliothekar, der seine Rechercheanfragen in ausufernden Dialogen beantwortet, erinnert frappierend an aktuelle KI-Chatbots. ChatGPT und Konsorten lassen sich bekanntlich schon heute per Sprache steuern. Es dürfte also nicht mehr allzu lange dauern, bis auch wir allwissende virtuelle Bibliothekare unser Eigen nennen können.
Woher kommt der Begriff Metaverse?
Neal Stephenson, der Autor von „Snow Crash“, wurde nach eigener Aussage vor allem durch den Cyberspace in William Gibsons Roman „Neuromancer“ inspiriert. Allerdings ist der Cyberspace in Gibsons Literatur eine sehr abstrakte Welt aus visualisierten Computerdaten. Stephenson entschied sich daher, das Metaverse in seiner Gestaltung mehr der realen Welt anzunähern.
Warum er sich für den Begriff Metaverse entschied, hat Stephenson bis heute nicht verraten. Die Ursprünge seiner Wortschöpfung werden also wohl bis auf weiteres ein Geheimnis bleiben. Eines aber beweist Stephenson damit: Sein Talent für klangvolle und einprägsame Wortschöpfungen – ein stilprägendes Merkmal des Science-Fiction-Genres – ist Weltklasse.
Der Roman „Snow Crash“ von Neal Stephenson
„Snow Crash“ ist temporeich, wortgewaltig und atmosphärisch dicht. Der Science-Fiction-Klassiker ist deswegen auch abgesehen von seiner historischen Signifikanz absolut lesenswert. Nur Vorsicht: Stephenson lotet gelegentlich auch gezielt die Grenzen des guten Geschmacks aus. Sein Science-Fiction-Klassiker ist daher nichts für schwache Nerven.
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