Am Ende ist alles Leugnen zwecklos: Am 1. Oktober 1946 wird Julius Streicher, Herausgeber der Hetzschrift „Der Stürmer“, im Zuge der Nürnberger Prozesse zum Tode verurteilt. Seine wütende Antwort: „Wenn Martin Luther heute lebte, dann säße er hier an meiner Stelle!“ Ein Satz, der aus heutiger Sicht ungeheuerlich erscheint – wurde mit dem 31. Oktober doch gerade jenes Datum zum gesetzlichen Feiertag in Norddeutschland erklärt, an dem Martin Luther 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, „als Tag des Brückenschlags zwischen den Religionen“. Doch war Luther tatsächlich der Brückenbauer zwischen den Religionen? Oder ist etwas an Streichers Worten dran?
Luthers kontroverse Schrift
Ein Blick ins Jahr 1543: Luther veröffentlicht seine Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. „Die Juden sind ein solch durchgiftetes Ding, dass sie 1400 Jahre unsere Plage, Pestilenz und alles Unglück gewesen und noch sind“, ist dort zu lesen. Luther stellt sieben Forderungen auf, die vorwegnehmen, was knapp 400 Jahre später grausame Wirklichkeit wird. So verlangt er mit Blick auf die Juden, „dass man ihre Synagoga oder Schulen mit Feuer anstecke“, „dass man ihren Rabbinern alle Barschaft und Kleinode an Silber und Gold nehme“. Für weite Teile der evangelischen Kirche sind diese Äußerungen noch immer ein Tabu – sie werden maximal als antijudaistisch angesehen, nicht aber als antisemitisch.
Ein schwarzes Kapitel der Geschichte
Kirchenhistoriker Heiko Augustinus Oberman sieht das anders. Das Thema Juden sei „keine schwarze Sonderseite“ in Luthers Werk, sondern „zentrales Thema seiner Theologie“. Sein Kollege Thomas Kaufmann spricht gar im Zusammenhang mit Luthers Hetzschriften von einer „literarischen ‚Endlösung‘ der Judenfrage“. „Es ist nicht auszuschließen, dass diese Schriften, die jahrhundertelang unbeachtet geblieben sind, eine unheilvolle Wirkung in der Vorgeschichte des Holocausts ausgeübt haben und damit so etwas wie Ermöglichungsfaktoren des eliminatorischen Antisemitismus der Nazis geworden sind.“
Fakt ist, dass die evangelische Kirche Hitlers antisemitische Politik unterstützte. Und auch Hitler selbst hebt immer wieder seine Wertschätzung für den Reformator und dessen Schriften hervor. Am 10. November 1938 brennen schließlich tatsächlich die Synagogen – ausgerechnet an Luthers Geburtstag.