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Wirklich nur Opfer? Die Österreicher und der „Anschluss“ 1938

Foto: Imago / ZUMA / Keystone

Wirklich nur Opfer? Die Österreicher und der „Anschluss“ 1938

Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft pflegte Österreich die Opferrolle – dass auch Österreicher Täter waren, wurde lange weitgehend totgeschwiegen.

.15. März 1938, Wien: Zehntausende Menschen säumen die Straßen der Donaumetropole, in den Händen halten viele von ihnen Hakenkreuzfähnchen – sie warten auf ihr neues Staatsoberhaupt, Adolf Hitler. Als der Diktator, selber gebürtige Österreicher, schließlich mit einem Konvoi zum Wiener Heldenplatz rollt und dort „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“ proklamiert, kennt der Jubel schier kein Halten mehr.

Das „jüngste Bollwerk der Deutschen Nation“ – Hitler vermied in der Ansprache das Wort „Österreich“ komplett – scheint sich mit seiner neuen Rolle sehr schnell arrangiert zu haben: Gerade mal drei Tage zuvor, am 12. März 1938, hatte der Bundesstaat Österreich durch den Einmarsch der Deutschen Wehrmacht faktisch aufgehört zu existieren.

Doch so begeistert zumindest Teile der österreichischen Bevölkerung den „Anschluss“ feierten, so vehement negierte die Alpenrepublik nach dem zweiten Weltkrieg jegliche Mitschuld an den Gräueltaten des Naziregimes – man pflegte lieber den Mythos des „ersten Opfers des nationalsozialistischen Deutschlands“, der von den Alliierten in der Moskauer Deklaration von 1943 festgestellt worden war. Diese Opferrolle wurde sogar im Staatsvertrag der Republik Österreich aus dem Jahr 1955 festgeschrieben und steht dort bis heute. Angesichts von geschätzt 600.000 bis 700.000 NSDAP-Mitgliedern und zahlreichen, an nationalsozialistischen Gräueltaten aktiv beteiligten Österreichern ist diese Darstellung aber doch zumindest fragwürdig. 

Austrofaschismus als Wegbereiter

Die Grundlagen für den reibungslosen „Anschluss“ von Österreich an das Großdeutsche Reich – so nannte sich das Deutsche Reich nach der Annexion – wurden schon einige Jahre vor 1938 gelegt. Bereits im Jahr 1933 schaltete der österreichische Bundeskanzler Dollfuß das Parlament des Landes aus; sein Ziel war, einen autoritären Staat zu schaffen und auf diesem Weg die österreichischen Marxisten von der Macht fern zu halten.

Im Jahr 1934 proklamierte Dollfuß dann den „Bundesstaat Österreich auf ständischer Grundlage“, eine faktische Diktatur, die damals in Anlehnung an das faschistisch regierte Italien auch als „Austrofaschismus“ bezeichnet wurde. Im gleichen Jahr gab es einen missglückten Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten, bei dem Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde. Sein Nachfolger wurde Kurt Schuschnigg.

Nazi-Deutschland bestritt damals vehement eine Beteiligung an dem Umsturzversuch – vor allem deswegen, da Österreich zu dieser Zeit eng mit Italien verbündet war und Hitler auf keinen Fall dessen faschistischen Diktator Mussolini verärgern wollte. Im Jahr 1935 änderte sich die Situation aber, nachdem Italien durch den Krieg in Äthiopien international isoliert und in der Folge auf Gedeih und Verderb an die Seite Hitlerdeutschlands gedrängt wurde. Von nun an wuchs der Einfluss Nazideutschlands in Österreich zunehmend, Bundeskanzler Schuschnigg musste unter Druck aus Berlin sogar Nationalsozialisten in seine Regierung aufnehmen.

Ab 1937 durften diese auch in die Regierungspartei Österreichs eintreten und sich in so genannten „Völkischen Referaten“ selbst organisieren. In einem letzten Akt der Verzweiflung kündigte Schuschnigg im März 1938 eine Volksabstimmung über die künftige Unabhängigkeit Österreichs an und läutete damit unfreiwillig das Ende des eigenständigen Staates ein: Unter Druck aus Berlin wurde am 12. März 1938 eine nationalsozialistische Regierung unter der Führung von Arthur Seyß-Inquart eingesetzt. Parallel lief das „Unternehmen Otto“ an; der Einmarsch deutscher Truppen nach Österreich begann.

Doch welche Rolle spielte die Entwicklung Österreichs ab 1934 für die Ereignisse des 12. März 1938 und der folgenden Monate und Jahre? Historiker beschreiben den Austrofaschismus gegenüber dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus heute als sehr milde Ausprägung dieser Staatsform, da wesentliche Merkmale wie eine staatlich gelenkte Ideologie, Massenorganisationen und eine aggressive imperialistisch geprägte Außenpolitik fehlten. Und doch sorgte dieser „Kleinfaschismus“ durch die mit ihm verbundene Abschaffung demokratischer Strukturen letztlich dafür, dass die deutschen Nationalsozialisten ein verhältnismäßig leichtes Spiel beim „Anschluss“ hatten – denn ohne eine funktionierende Zivilgesellschaft fehlt die Grundlage für breiten demokratischen Widerstand.

Sehr engagierte „Opfer“

Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs begann im Jahr 1938 die Judenverfolgung, die sich hier ebenso wie im Rest des Großdeutschen Reichs zu einem grausamen Massenmord steigerte. Zehntausende Österreicher flüchteten während der NS-Herrschaft vor politischer und rassistischer Verfolgung ins Ausland; wer die offensichtliche Bedrohung dennoch ignorierte, landete früher oder später in den Fängen des Regimes.

Diejenigen, die nicht zu den wehrlosen Opfern gehören wollten, gingen entweder in den Widerstand – Schätzungen gehen heute von rund 100.000 Österreichern aus, die diesen Weg wählten; 2.500 bis 3.000 von ihnen bezahlten dafür mit dem Leben -, oder arrangierte sich auf die eine oder andere Art mit dem System: Mindestens 600.000 Österreichischer traten zwischen „Anschluss“ und Kriegsende der NSDAP bei.

Die Mitgliedschaft zahlreicher Österreicher in der NSDAP muss nicht zwangsläufig als Zeichen der Zustimmung oder gar Begeisterung für das nationalsozialistische Herrschaftssystem gewertet werden – auch in Deutschland gab es viele Menschen, die aus Angst oder Opportunismus Mitglied in der Nazi-Partei waren.

Doch der jahrzehntelang gepflegte Opfermythos der Österreicher gerät spätestens dann ins Wanken, wenn man sich mit der aktiven Rolle mancher ihrer Mitbürger beschäftigt: Obwohl die Bewohner der „Ostmark“ – so der offizielle Name während NS-Herrschaft – nur acht Prozent der Bevölkerung des Großdeutschen Reichs ausmachten, waren Schätzungen zu Folge bis zu 14 Prozent der SS-Mitglieder und 40 Prozent aller KZ-Aufseher österreichischer Abstammung.

Im Stab von Adolf Eichmann, dem Organisator von Vertreibung und Deportation der europäischen Juden, stellten Österreicher sogar 70 Prozent der Mitarbeiter. Eichmann, der später als zentral mitverantwortlich für die Ermordung von geschätzten sechs Millionen Juden verurteilt und hingerichtet wurde, war selbst auch Österreicher. Reine Opfer sehen anders aus.

Waldheim-Affäre: Späte Aufarbeitung

Es dauerte bis in die 1980er Jahre, ehe in Österreich die Aufarbeitung der eigenen Rolle im Nationalsozialismus begann: 1986 kandidierte Kurt Waldheim als Bundespräsident der Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Im Rahmen ihrer Recherchen zu Waldheims Vergangenheit deckten Redakteure des Nachrichtenmagazins „profil“ seine Rolle in der NS-Zeit auf. Waldheim war von 1939 bis 1945 in der Wehrmacht aktiv, zunächst als Soldat, später als Offizier. Eine Historikerkommission stellte 1988 fest, dass er zwar nicht selbst an Kriegsverbrechen beteiligt, aber von diesen gewusst und sie teilweise sogar durch eigene Handlungen begünstigt hatte. Waldheim wurde zwar trotz der Vorwürfe 1986 zum Österreichischen Bundespräsidenten gewählt, verzichtete 1992 allerdings freiwillig auf eine erneute Kandidatur.

Auch wenn Waldheim letztlich nicht verurteilt wurde, da ihm keine Kriegsverbrechen nachgewiesen werden konnten – die Affäre um ihn und seine NS-Vergangenheit war Auslöser für die Aufarbeitung der Rolle Österreichs im Nationalsozialismus, die aus Sicht vieler Österreicher längst überfällig war.

Bundeskanzler Vranitzky fasste den nun veränderten Blick des Lands auf seine NS-Geschichte in einer Rede im Jahr 1991 zusammen: „Es gibt eine Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben (…) Wir bekennen uns zu allen Taten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen – bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten.“

Auch wenn es lange gedauert hat – letztlich hat sich die Alpenrepublik heute damit abgefunden, dass sie während der Zeit des Nationalsozialismus sowohl Opfer als auch Täter war. Der 2007 verstorbene Kurt Waldheim brachte dies ein Jahr vor seinem Tod in einem Interview auf den Punkt: „Es war notwendig, ja unverzichtbar, dass wir Österreicher uns von der reinen Opferrolle verabschiedet haben. Sie war zwar Grundlage unseres inneren Friedens nach 1945, des Wiederaufbaus und unserer Nachkriegs-Identität, aber doch nur Teil der Wirklichkeit.“

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